Freitag, 17. Oktober 2025

Adenauer aus der Sicht von 2025

"[...] Frei: Er glaubte, dass sie [die NSDAP] sich wieder niederringen lässt, und wollte sie nicht durch zu viel Aufmerksamkeit noch größer machen. Diese Haltung beruhte auf seiner lange Zeit unangefochtenen Amtsstellung. Aber die Nationalsozialisten verstanden es, ihn als korrupt und elitär in Verruf zu bringen. Wohl auch deshalb hat er dem neuen Reichskanzler Hitler vor der Märzwahl 1933 demonstrativ die Begrüßung in Köln verweigert. Das war ein starkes Zeichen. ZEIT: Adenauer galt den Nationalsozialisten als Repräsentant des verhassten Weimarer Systems. Zugleich hatte er überaus autoritäre Züge. Wie stand er zur parlamentarischen Demokratie? Frei: Adenauer war immer ein Mann der Exekutive, nicht des Parlaments. Deswegen hatte er auch mit den Präsidialregimen in der Spätphase Weimars kein großes Problem. Er wollte Taten sehen, und er hat viel geleistet. Auf den Inneren Grüngürtel in Köln war er bis zum Ende seines Lebens stolz. ZEIT: Geboren im Januar 1876, vor 150 Jahren, wurde er im Kaiserreich politisch sozialisiert. Frei: Ja, aber es fiel ihm 1918 überhaupt nicht schwer, sich auf die neue Ordnung einzustellen. Er hegte keine antidemokratischen Affekte. Er »machte« einfach, ließ sich als junger, erfolgreicher und extrem gut bezahlter Oberbürgermeister auf die Republik ein, wurde Präsident des Preußischen Staatsrats. Adenauer war ein überzeugter bürgerlichkonservativer Repräsentant Weimars. ZEIT: Sie beschreiben ihn als ausgeprägten Besitzbürger. Es fällt sogar das Wort Geldgier. Frei: Er war ein Selfmademan. Er hielt es für selbstverständlich, als Oberbürgermeister im modernsten Mercedes gefahren zu werden und ein Haus in bester Kölner Villenlage zu besitzen. Auch während der NS-Zeit fand Adenauer Halt im Materiellen. Das Haus in Rhöndorf, das er 1937 bauen ließ, war seine mentale Burg. Es gab ihm Sicherheit nach einer Zeit, in der ihn sein Lebensmut ziemlich verlassen hatte. In früheren Biografien wurde das kaum thematisiert. 

ZEIT: Er hatte Suizidgedanken? 

Frei: Ja, er hatte 1933 Suizidgedanken. Das verbietet sich natürlich für einen Katholiken, und es verbietet sich für einen Familienvater. »Wenn nicht meine Familie und meine religiösen Grundsätze wären«, schrieb er seinem Freund Heineman, »hätte ich schon lange meinem Leben ein Ende gemacht.« ZEIT: Aus Angst? Hoffnungslosigkeit? Aus einem Gefühl der Demütigung heraus? Frei: Die Niedertracht der Nazis und seine Entlassung als Oberbürgermeister hatten ihn zutiefst getroffen. Er stritt nach 1933 noch jahrelang mit den NS-Oberen um seine Beamtenversorgung. Und er entwickelte einen fundamentalen Zweifel am politischen Verstand, ja der moralischen Zurechnungsfähigkeit der Deutschen. Auch von seinem eigenen politischen Milieu sah sich Adenauer fallen gelassen. Nicht zufällig setzte er sich nach 1945 nicht für die Wiederbelebung der katholischen Zentrumspartei ein, sondern für die Gründung der überkonfessionellen CDU. 

ZEIT: Wobei das katholische Milieu 1933 zunächst viel resistenter gewesen war als etwa das protestantische. Frei: Natürlich. Auch Adenauer war durch seinen Katholizismus geradezu antinationalsozialistisch imprägniert. Überdies pflegte er enge freundschaftliche Kontakte ins jüdische Bürgertum seiner Heimatstadt.

 Als junger Oberbürgermeister hatte er in dem Bankier Louis Hagen einen wichtigen Mentor. 

ZEIT: Warum ist er nicht ins Exil gegangen? Frei: Er glaubte wohl zu wissen, dass die Naziherrschaft nicht tausend Jahre dauern wird, und er wollte sie mit etwas Vorsicht im Reich überstehen. [...]

ZEIT: Adenauer wurde angetragen, sich dem Widerstand anzuschließen. Warum lehnte er ab? 

Frei: Er wollte sich und seine Familie nicht gefährden. Und er hatte politische Bedenken. Schon 1943 soll er im privaten Kreis gesagt haben, dass die Kriegsniederlage, anders als 1918, eine totale sein müsse – sonst gebe es eine neue Dolchstoßlegende. Adenauer war überzeugt, dass Deutschland nur von außen befreit werden könne. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 stand die Gestapo allerdings auch in Rhöndorf vor der Tür. Vier Wochen später wurde Adenauer festgenommen, konnte aber mithilfe eines Kölner Kommunisten aus der Lagerhaft entkommen und tauchte unter. Die Gestapo verhaftete daraufhin seine Frau und erpresste sie mit der Drohung, auch die Töchter einzusperren. Gussie Adenauer verriet das Versteck ihres Mannes und versuchte danach aus Scham, sich das Leben zu nehmen. Beide kamen wieder frei, aber diese Wochen hinterließen Spuren in der Familie. ZEIT: Wie stand Adenauer nach 1945 zum 20.Juli? Frei: So wie die meisten Führungsfiguren der frühen Bundesrepublik: Bis zum zehnten Jahrestag 1954 blieb er zurückhaltend. Zu dominant war immer noch die Stimmung gegen die »Eidbrecher« aus der Wehrmacht, und der Kanzler wollte keine Wählerstimmen verlieren. ZEIT: Gab es eigentlich nur den Pragmatiker Adenauer, der den 20. Juli beschwieg in machttaktischer Rücksichtnahme? Oder war da noch ein anderer? [...]

Frei: [...] Was den Widerstand betrifft, war er ein zu großer Realist und Pessimist, als dass er eine Chance gesehen hätte. Und seine Skrupellosigkeit als Wahlkämpfer ist legendär. Wenn es seiner Sache diente, war Adenauer fast jedes Mittel recht. Er wusste: Ein ganzes Volk hat versagt, und wenn ich es für meine politischen Ziele gewinnen will, kann ich ihm dieses Versagen nicht ständig vorhalten. Mit der ihm eigenen Diskretion des Unkonkreten bemäntelte er daher Dinge, von denen in Deutschland fast niemand etwas wissen, geschweige denn gewusst haben wollte. Selbst in den Verhandlungen über die Entschädigungszahlungen an Israel sprach er nicht von Verbrechen, sondern nur vage von dem »Unrecht«, das den Juden geschehen sei. 

ZEIT: Was hielt er von der Idee der Alliierten, die Deutschen umzuerziehen? Frei: In vertraulichen Korrespondenzen schrieb er 1945/46 ganz unverblümt, dass die von den Nazis indoktrinierte junge Generation umerzogen werden müsse. Die mittlere, die zu verantworten hatte, was passiert war, sei ebenfalls nicht zu gebrauchen. Übrig blieben nur die Weimarer Demokraten seiner eigenen Generation – also allen voran er selbst. Sein Führungsanspruch war insofern auch Folge seines schon erwähnten Misstrauens gegenüber den Deutschen. Sein unausgesprochenes Prinzip war: Ich weiß, was richtig ist, und setze das durch. Entsprechend instrumentell bediente er sich seines Personals: »Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat«, lautete sein Credo im Umgang mit den belasteten Funktionseliten. 

ZEIT: Bereitete es ihm kein Unbehagen, Leuten, vor denen er sich zwölf Jahre lang fürchten musste, wieder den Weg in Ämter und Positionen zu ebnen? Frei: Adenauer wusste, wie opportunistisch die Menschen sind. Unter den neuen, von ihm gesetzten Rahmenbedingungen würden sie schon funktionieren. Diese Denkweise zeigte sich auch in der berüchtigten Causa Globke. 

ZEIT: Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, war Staatssekretär im Kanzleramt. Frei: Wofür Adenauer immer wieder heftige Kritik aus dem In- und Ausland einstecken musste. Aber er hielt bis zum Schluss an seinem Eckermann fest. Globke war dem Kanzler einfach zu nützlich. Und das, obwohl der von sich selbst sagte: Ich hätte das nicht gekonnt, ich hätte 1933 nicht im Reichsinnenministerium bleiben können. 

ZEIT: Hätte es fürs Kanzleramt nicht etwas »saubereres Wasser« gegeben als ausgerechnet Globke? Frei: Da kam, je länger, desto mehr, wohl auch Sturheit ins Spiel, zumal angesichts des Drucks aus Ost-Berlin: Je maßloser die DDR-Propaganda gegen das »klerikalfaschistische Adenauer-Regime« hetzte, desto entschiedener hielt der Kanzler im Zeichen des Antikommunismus dagegen. [...]

Frei: Entscheidend war für ihn der Erfolg, den seine Politik des kalkulierten Beschweigens hatte. Die Bundesrepublik entwickelte sich zu einer funktionierenden Demokratie, und Leute, die eben noch Hitler zugejubelt hatten, jubelten nun ihm zu und wählten demokratische Parteien. Der Preis dafür war, Schluss zu machen mit der »Nazi-Riecherei«. Adenauer handelte in dem Bewusstsein, Deutschland dieses Mal auf den richtigen Weg bringen zu können. Er formulierte nicht in Kategorien des persönlichen Stolzes, aber nach seiner ersten USA-Reise sagte er 1953, er sei stolz darauf, dass der »deutsche Name« wieder etwas gelte in der Welt. Daraus sprach kein primitiver Nationalismus, sondern Genugtuung über eine Leistung, die in seinen Augen auch die NS-Jahre ein Stück weit aufwog.  [...]

Irgendwann verstand dieser dann doch sehr alte Mann die Welt nicht mehr. Aber hinter seinem autoritären Führungsstil steckte auch ein Charakterzug: Adenauer, der Patriarch. Im Greisenalter trat das noch stärker hervor. Auch seine gegen die Sozialdemokraten gerichtete antikommunistische Rhetorik verhärtete sich, ganz zu schweigen von der illegalen Bespitzelung der SPD durch den Bundesnachrichtendienst, die er billigte und von der er profitierte. 

ZEIT: Adenauer hat die öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur vermieden. Eines aber setzte er 1952/53 gegen die »Volksstimmung« durch: das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen mit Israel. Was waren seine Motive? 

Frei: Zum einen war er überzeugt, dass das begangene »Unrecht« nach Sühne verlangte. Zum anderen war ihm klar, dass die Bundesrepublik von dem Abkommen profitieren würde auf ihrem Weg, wieder ein angesehenes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft zu werden. ZEIT: Etwas »wiedergutgemacht« hat das Abkommen also vor allem für Deutschland? Frei: Nicht »vor allem«. Der junge israelische Staat profitierte erheblich von den Zahlungen. Adenauer wusste natürlich, dass das nicht populär war, weshalb im Stillen verhandelt wurde, auch mit Rücksicht auf die israelische Seite, denn in Israel war das Abkommen ebenfalls umstritten. Zugleich sprach er gelegentlich etwas drohend von der »Macht der Juden«, gerade in Amerika. Womöglich hatte er den berühmten Satz des Hohen Kommissars John McCloy im Ohr, das Verhältnis der Deutschen zu den Juden werde sich als »Prüfstein« für die Entwicklung des »neuen Deutschlands« erweisen. Nicht zuletzt hatte das Thema für ihn eine persönliche Dimension. Besonders deutlich zeigte sich das nach den Hakenkreuzschmierereien an der Kölner Synagoge 1959, die eine internationale Welle der Empörung auslösten. Adenauer hielt damals eine Ansprache, in der er, ganz untypisch, von sich selbst erzählte: In seiner Bedrängnis 1933 seien es zwei Juden gewesen, die ihm als Erste Hilfe anboten. 

ZEIT: Hätte es Alternativen gegeben zu seiner Vergangenheitspolitik, vor allem zum Wiedereinsetzen der Tätergeneration? 

Frei: Grundsätzlich führte nach dem Ende der Entnazifizierung an der Reintegration der Funktionseliten kein Weg vorbei. Aber man hätte an vielen Stellen strenger, genauer und kritischer sein können, etwa bei den Polizeibehörden. ZEIT: War es nicht auch eine riskante Wette, die der misstrauische Adenauer da eingegangen ist? Frei: Ja, das war mit einem gewissen Risiko behaftet, aber er sah sehr schnell, dass er auf dem richtigen Weg war. Es ist atemberaubend, wie rasant und unbeirrbar Adenauer die Weichen gestellt und seine Politik der Westbindung auch gegen Widerstände in der eigenen Partei betrieben hat. Das war revolutionär und bleibt sein größtes Verdienst. [...]"

Norbert Frei

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"[...] Frei: Er glaubte, dass sie [die NSDAP] sich wieder niederringen lässt, und wollte sie nicht durch zu viel Aufmerksamkeit noch gr...