Mittwoch, 24. April 2024

Armut in der Spätantike und heute

 Wenn man aufgrund der inzwischen recht hohen Qualität und wegen des leichten Zugriffs auf die Wikipedia gewohnt ist, sich weitgehend dort über historische Zusammenhänge zu informieren, hat es manchmal etwas Erfrischendes, historische Darstellungen zu lesen, in denen der Autor sich allgemeine Aussagen erlaubt, wie sie bei einem Autorenkollektiv wie bei der Wikipedia als Theoriefindung verpönt wäre. 

So schreibt Steven Runciman: "Das Leben der Armen ist mehr oder weniger zu allen Zeiten und in allen Ländern dasselbe: es erschöpft sich in der angstvollen Sorge um den nackten Lebensunterhalt." (Steven Runciman: Von der Gründung bis zum Fall, Erstfassung 1932, zitiert nach dtv 1983, S.244) 

Und fährt dann fort: "Die Armen von Konstantinopel lebten in tiefem Schmutz, obwohl ihre Slums unmittelbar in die Paläste der Reichen anstießen, aber sie waren vielleicht doch besser daran als die Armen der meisten Völker. Der Zirkus, ihre einzige Erholung stand ihnen kostenlos offen. Die unentgeltliche Verteilung von Brot war zwar von Herakleios [619] abgeschafft worden, aber freie Verpflegung stand nach wie vor für alle bereit, die für den Start arbeiteten, etwa bei der Instandhaltung der öffentlichen Anlagen und Aquädukte oder in den staatlichen Bäckereien. Es war Aufgabe des Quästoren, darüber zu wachen, dass Mittellose auf diese Art eine nützliche Arbeit bekamen und dass niemand ohne Beschäftigung blieb. Um das zu garantieren, war es verboten, die Stadt ohne behördliche Arbeitsgenehmigung zu betreten." (S. 244)

Offenkundig hier die Abstufung der Armut zwischen der Großstadt, deren Arme (ähnlich wie in de Festung Europa) vor der Konkurrenz durch Migranten geschützt wurden. 

Nun wieder Runciman:

"Angesichts all dieser karitativen Einrichtungen ist es wahrscheinlich, dass es nur wenig wirklichen Hunger gab. Es ist auch wesentlich zu bemerken, dass niemals anarchistische oder kommunistische Ideen der Antrieb waren, wenn das Volk sich zu seinen Aufständen erhob. Dabei mochte es zum Beispiel um die Absetzung eines schikanösem Ministers gehen oder um die Ausrottung verhasster Fremder, jedoch niemals um den Versuch einer gewaltsamen Veränderung der Gesellschaftsordnung. Wenn das Volk, wie nicht selten, seine ursprünglichen souveränen Rechte anmeldete, so geschah es tatsächlich eher zur Rettung des purpurnen kaiserlichen Blutes vor einem übermütigeren Usurpator.

Neben den freien Armen gab es noch eine beträchtliche Sklavenbevölkerung. Wie groß diese tatsächlich war, lässt sich nicht mehr sagen; dass Christen versklavt wurden, hielt man schon bald für Unrecht – freilich waren auch die Freien auf dem flachen Land kaum mehr als Sklaven. jedenfalls wurden bis zum zwölften Jahrhundert islamische Ungläubige und heidnische Sklaven sowohl im privaten Dienst wie auch in den staatlichen Bergwerken und anderen staatlichen Unternehmen beschäftigt. Es waren entweder nicht zurückgekaufte sarazenische Gefangene oder öfter noch Menschenware, die die Händler aus den Steppen herbeischafften; vor allem die Rus/sen verkauften regelmäßig die Beute ihrer Raubzüge auf dem Markt von Konstantinopel. Es bestand allerdings von Anfang an ein Ressentiment gegen die Sklaverei, das ständig zunahm. [...] Allmählich stieg infolge der Ausbreitung der kulturellen Errungenschaften der Preis für die menschliche Ware zu unerschwinglicher Höhe; doch wahrscheinlich waren noch im 14. Jahrhundert ins Konstantinopel Sklaven zu finden. Soweit sie privaten Herren gehörten, war ihr Leben vermutlich durchaus erträglich und menschenwürdig; ihre Leidensgenossen im Staatsbesitz freilich wurden wohl immer noch wie Vieh behandelt." (S. 245/46)

Jetzt aber zur Darstellung der Wikipedia, hier im Blick auf die gesamte Spätantike:
"Dem gegenüber galt der Großteil der Bevölkerung als „arm“, was aber nur grundsätzlich bedeutete, dass man nicht von seinen Pfründen oder seinem Grundbesitz leben konnte, sondern für seinen Broterwerb selbst arbeiten musste. Daher wird diese Vorstellung von einer simplen Unterteilung in „Arm“ und „Reich“ der komplexen Realität kaum gerecht, wenngleich in den Quellen teils – wie zu allen Zeiten – gegenüber den sozialen Eliten der Vorwurf der Verschwendungssucht erhoben wird.

Auf dem Land galt für die Pächter der Großgrundbesitzer in der Regel die Bindung an das zu bearbeitende Stück Land, die sogenannte Schollenbindung (siehe Kolonat). Diese Maßnahme sollte die Bearbeitung des Bodens sichern und damit dem Staat stabile Einnahmen garantieren. Eine generelle, reichsweite Verarmung der Kleinbauern und ihre grundsätzliche Verdrängung durch die Kolonen lässt sich dabei nicht konstatieren. Auf dem Land, vor allem in Gallien, kam es jedoch vereinzelt zu Aufständen der Bagauden, deren Ursachen umstritten sind, ähnlich wie die Hintergründe der Circumcelliones in Africa. Insgesamt kennen wir für die Spätantike auch unter Einrechnung städtischer Revolten weniger Fälle von sozialen Unruhen als für die früheren Phasen der römischen Geschichte.[334]

Sklaven waren weiterhin allgegenwärtig und ihr Besitz war wohl kein Privileg reicher Personen; bereits Familien mit einem mittelgroßen Einkommen setzten durchaus Sklaven ein, teils verfügten sogar Kolonen über sie. Die Bedeutung der Sklaven variierte aber stark in den unterschiedlichen Provinzen. Während in Italien, Sizilien und Hispanien Sklaven seit der frühen Kaiserzeit in großem Umfang in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, war ihre Bedeutung etwa in Ägypten sehr viel geringer, da dort stärker freie Arbeiter beschäftigt wurden. In Africa und Kleinasien bestand die überwiegende Mehrheit der Arbeiter ebenfalls aus Freien. Insgesamt scheinen Sklaven auf großen Gütern weniger eingesetzt worden zu sein.[335]"

Hier wird sorgfältig vermieden, eine allgemeine Aussage über Armut - und sei es auch nur in der Spätantike - zu machen, und zwar werden gleich alle, die überhaupt für ihren Broterwerb arbeiten müssen, zu den im weiteren [damals üblichen] Sinne zu den Armen gerechnet.

Dass die Stadtbevölkerung von Konstantinopel, die die Energie zu ideologisch bedingten (nicht aus Hungersnot mehr oder minder erzwungenen) Aufständen hatte und die Kleinbauern nicht existenzgefährdend verarmt war, scheint aus dieser Darstellung hervorzugehen. Demnach bestand die soziale Scheidung damals wohl eher zwischen privaten und öffentlichen Sklaven und zwischen abhängigen und versklavten Landarbeitern. Die in Bergwerken oder auf Galeeren eingesetzten Sklaven hatten wohl selbst gegenüber versklavten Landarbeitern ein besseres Los. 

Im Blick auf unseren heutigen Sozialstaat wird Runcimans Definition von Armut, sie erschöpfe "sich in der angstvollen Sorge um den nackten Lebensunterhalt" so pauschal gewiss nicht gelten, doch angesichts der Überlastung der staatlichen Finanzen und der anscheinend unmöglichen Heranziehung der Superreichen zu einem wesentlichen solidarischen Beitrag zu den zwingenden staatlichen Aufgaben kommt wieder Sorge auf. 

Freilich, existenziell in dem Sinne, dass es um das nackte Überleben geht, ist sie bisher nur im Globalen Süden angesichts von Dürren und Überschwemmungen, die Millionen bedrohen, begründet. - Wenn die Solidarität weiterhin ausbleibt, könnte es auch in Europa weithin zur existenziellen Armut, wie sie die Unterschicht der antiken Armen betraf, kommen. 


Außerhalb des Zusammenhangs hier erwähnt, weil er von Runciman oft herangezogen wird: Michael Psellos 

"[...] Aber auch kein Urteil ist zu hoch, um die geistige Kraft dieses Mannes zu kennzeichnen. Sein Wissen erstreckte sich auf alle Gebiete und war den Zeitgenossen schlechthin ein Wunder. Er war erfüllt von einer glühenden Liebe für die antike Weisheit und Dichtung. … Das Studium der Neuplatoniker genügte ihm nicht, er fand den Weg zur Quelle, hat Platon kennengelernt und kennen gelehrt.. Er war der größte byzantinische Philosoph und zugleich der erste große Humanist.“


– Georg OstrogorskyGeschichte des byzantinischen Staates[9] (Wikipedia)

Samstag, 9. März 2024

Fluchtpunkt Empires. Wahrnehmung und Erfahrung

Ulrike von Hirschhausen, Jörn LeonhardEmpiresEine globale Geschichte 1780-1920

Perlentaucher

https://westeuropa.geschichte.uni-freiburg.de/fluchtpunkt-empires-wahrnehmung-und-erfahrung-joern-leonhard-und-ulrike-von-hirschhausen-zu-gast-bei-l-i-s-a-gerda-henkel-stiftung

https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/zugastbeilisa_leonhard_vonhirschhausen_empires?newsletter=1#audio-11554:

Stichpunkte des Gesprächs:

Kolonisator und Kolonisierte sind keine sich ausschließende Dichotomie

In den konkreten Situationen vor Ort entstehen Mischsituationen

Kritik an Dichotomien

exzessive Landmacht - maßvolle Seemacht

Zentrum (mächtig) Peripherien (abhängig) In den Randregionen ist das so nicht gegeben.

Galizien wurde durch Rohstoff Erdöl wichtiger. Deshalb den Begriff Peripherie fallengelassen. Machtzentrum von der Randregion her in Frage gestellt.

Auch keine Dichotomie Empire und Nationalstaat mehr akzeptiert. 

Nationalisierende Tendenzen bei den Empires

Herrschaftstechnik der Zentrale von der Randregion benutzt, um die Herrschaft zu schwächen. Die imperiale Herrschaftstechnik Volkszählung wird von den Nationen in Wahlen uminterpretiert. In Österreich und im britischen Empire in Indien. Die Gezählten haben eine Konversion des Instruments. - Die Rolle der Kolonialsoldaten im 1. Weltkrieg wird für eine Verbesserung des Status im Empire genutzt. 

Zentrale Versuch über Eisenbahnbau das Empire zu vereinheitlichen, im Randgebiet wird das zum Widerstand benutzt. Vorgeschichte der Dekolonisierung. 

Transsibirische Eisenbahn von Revolutionen gegen die Herrschaft der Zaren genutzt.

Afrikaner nutzen das Rechtsversprechen gegen die Zentrale: gegen Frankreich, gegen Großbritannien im Kontext des Burenkrieges. 

Rolle von Ideologien? Weshalb klappt es nicht mit der Niederwerfung der Randgebiete?

Eine Rolle spielen die Kosten. Verschlankung des Beamtenapparats, bedeutet eine Ermächtigung der Bevölkerung der Randgebiete. Ho Tschi-minh lernt aus dem Vergleich mit den afrikan. Randgebieten., sieht, dass dort günstigere Verhältnisse entstehen. 

Das Neue im Buch:

Globalisierung von Empire - Herrschaft vor Ort

Empire u Nationalstaat gehen ineinander über, weil die Empires nationalstaatliche Modelle zur Modernisierung zu nutzen versuchten, was zu Rückschlägen führte.

Steckt im Buch eine Geschichtstheorie?  Bewohner der Randgebiete entwickeln sich zu Bürgern.

Leonhardt hält dagegen: Senghor (négritude), Gandhi sind Gegenbelege.

Leonhardt: Putin allerdings greift auf den Denkstil des Empire zurück. Ähnlich China gegenüber Taiwan.

Vergleich British Empire USA. Leonhardt: Translatio imperii von Großbritannien zu USA, aber historisch die Vorstellung vom Imperium wegen des demokratischen Impetus nicht einfach aufgreifbar. Der "gute Hegemon" ist nicht zu sehen.


Montag, 26. Februar 2024

Die Nato, das britische Weltreich, das Commonwealth - historische Schlaglichter

 Die Nato hat sich wiederholt das Ziel gesetzt, wonach jedes Mitglied 2% seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben aufwenden sollte.

"Wie entstand das Zwei-Prozent-Ziel? [...] Es handelt sich um ein Ziel, das sich die NATO-Staaten gemeinsam setzten [...] zum NATO-Gipfel 2002 in Prag. Damals wurden die baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien und die Slowakei eingeladen, Mitglieder der Allianz zu werden. Eine Bedingung war es, "genügend Ressourcen" in die Verteidigung zu investieren. Der Richtwert für jeden Aspiranten lautete zwei Prozent seines BIP. Der Gerechtigkeit halber sollten aber auch jene Staaten, die der NATO bereits angehörten, dieses Ziel anstreben Festgeschrieben wurde das Zwei-Prozent-Ziel noch einmal 2014 beim NATO-Gipfel in Wales. Das war nach der Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch in der Ukraine." (tagesschau 3.4.2019)

Der aktuelle Grund war, dass die neuen Nato-Mitglieder relativ finanzschwach waren, aber die Gefahr, dass in einem Konflikt mit Russland besonders betroffen wären. Sie zu Mindestzahlungen zu verpflichten, aber Gerechtigkeit zwischen Alt- und Neumitgliedern herzustellen, war ein zweiter Aspekt. Natürlich spielte auch hinein, dass der Aufwand der USA im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten unverhältnismäßig hoch ist:

 "Insgesamt haben die kumulierten Militärausgaben des NATO-Bündnisses im Jahr 2022 geschätzt rund 1,175 Billionen US-Dollar betragen. Davon sind rund 822 Milliarden US-Dollar auf die USA und rund 353 Milliarden US-Dollar auf die übrigen 29 NATO-Staaten entfallen." (de.Statista.com

Vergleichbar war 1897 die Situation zwischen Großbritannien und den anderen Staaten des British Emire:

"Für die See- und Landverteidigung wurden im Vereinigten Königreich jährlich 29 Schilling und 3 Pence pro Kopf der Bevölkerung ausgegeben; in Kanada dagegen nur 2 Schilling, in Neu Süd Welt 3 Schilling und 5 Pence, in Victoria 3 Schilling und 3 Pence, in Neuseeland 3 Schilling und 4 Pence und in der Kapkolonie sowie in Natal nur zwischen 2 und 3 Schilling pro Kopf der weißen Bevölkerung. Chamberlain sagte: 'Nun wird niemand behaupten, dass das eine gerechte Verteilung der für das Reich anfallenden Lasten ist. Niemand wird behaupten, daß das Vereinigte Königreich für alle Zeiten dieses außerordentliche Opfer bringen kann."(Nicholas Mansergh: Das britische Commonwealth 1969, in Kindlers Kulturgeschichte  Europas Bd.17, S. 249)

mehr dazu:






















Bei der Auseinandersetzung zwischen der Gruppe, die das Empire in einen Bundesstaat umwandeln wollten (Imperial Federation League) (Gründung des Vereins 1884), setzten sich zum Glück die durch, die den Kolonien eine größere Selbständigkeit zugestehen wollten. Nur das - so Mansergh - ermöglichte den Übergang des British Empire über die Bildung von Dominions zu den gleichberechtigten Mitgliedern des British Commonwealth im Statut von Westminster 1931, dem heutigen Commonwealth of Nations

Montag, 1. Januar 2024

Helmut Schmidt zu Fragen der Zeitgeschichte

Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt,   2009/2010; 15. Aufl. 2011

Zitate:

Von der Kubakrise bis zum Nato-Doppelbeschluss

[...] bestand zur Zeit Ihrer Kanzlerschaft wirklich die Gefahr eines Atomkriegs, wie wir damals alle glaubten?

Seit der Kubakrise 1962 keine akute Gefahr. [...]

In diesem Zusammenhang sollte ich erwähnen, dass ich die nukleare Gefahr schon lange vorher sehr deutlich gesehen habe. Als ich 1969 Verteidigungsminister wurde, stieß ich auf Pläne der NATO und der deutschen Militärs, entlang der Zonengrenze auf westdeutscher Seite Hunderte atomarer Landminen zu vergraben.

Von wem stammte denn dieser irrsinnige Plan?
Von der NATO. Gemeinsam mit einem Amerikaner habe ich diesen todgefährlichen Unfug beseitigen können. Der Amerikaner hieß Melvin Laird, er war damals amerikanischer Verteidigungsminister. [...] 
Ich habe gesagt, wenn irgendein kommunistischer Kommandeur in der Verfolgung irgendwelcher flüchtigen Leute über die Grenze rüberkommt und eine atomare Mine geht hoch, dann heben alle deutschen Soldaten die Hände hoch, dann ist Schluss mit der Verteidigung. Dieses Argument hat den amerikanischen Verteidigungsminister überzeugt. Er war genau wie ich ein alter Soldat und wusste, was man Soldaten zumuten kann und was nicht.
Verstehe ich nicht.
Sogar die japanischen Soldaten haben nach der ersten Bombe die Hände hochgehoben. Die zweite Bombe auf Nagasaki war gar nicht mehr notwendig.
Die Massendemonstration im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland wurde als regelrechte Anti-Schmidt-Demonstration verstanden, das war im Jahr 19 81.
Die war auch wohl so gemeint. Aber es war im wesentlichen die Angst vor dem Atomkrieg. Die Anti-Schmidt-Komponente spielte eine zweit- oder drittklassige Rolle; denn mein Amtsnachfolger Helmut Kohl musste etwa später eine gleiche Demonstration aushalten.
Wissen Sie noch, was Willy Brandt damals zu den Protesten von mehr als 300.000 Menschen gesagt hat?
Ich erinnere mich nicht.
Er habe auf deutschem Boden schon Schlimmeres gesehen als eine Massendemonstration für den Frieden.
Ja, das würde ich unterschreiben. Ich habe auf deutschem Boden auch schon viel Schlimmeres gesehen. Willy Brandt hat es von draußen gesehen.
Nimmt das Brands Worten etwas?
Keineswegs. Wohl aber hat der NATO-Doppelbeschluss, gegen den die beiden Demonstrationen sich richteten, zum allerersten Abrüstungsvertrag und auf beiden Seiten zur Beseitigung aller atomare Mittelstreckenraketen geführt."
(29. November 2007, S.91-93)

Sonntag, 31. Dezember 2023

Weltgeschichte

Weltgeschichtsschreibung

Schon Herodot  hat versucht, die Geschichte der gesamten ihm bekannten Welt festzuhalten. Da er sich dabei auf die vorhandene Überlieferung stützte, hat er dafür auch Mythen herangezogen. Mittelalterliche Schreiber von Weltchroniken begannen aus demselben Grund mit der Schöpfung. 

Mit der Begründung der Archäologie gelang es, über die überlieferte Geschichte hinaus (Geschichte im engeren Sinne als Geschichte seit Erfindung der Schrift) durch Nutzung von Überresten Tradition kritisch zu überprüfen und die Menschheitsgeschichte bis zur Entwicklung der Menschen aus den Hominiden zurückzuverfolgen. 

Neue Versuche von Weltgeschichtsschreibung beziehen zum Teil auch die Erdgeschichte mit ein. 

Eine scherzhafte Darstellung der Weltgeschichte findet sich in den Film Weltgeschichte in genau drei Minuten.

Menschheitsgeschichte

Die Geschichte der gesamten Menschheit lässt sich nur in recht abstrahierter Form umfassend darstellen. Sie findet sich im Internet in der Menschheitsgeschichte der Wikipedia. 

Ein Versuch, die Entwicklung differenziert nach Erdteilen und Kulturen darzustellen, findet sich in der Geschichte der Menschheit in Wikibooks.

Jeder Versuch, zum Zwecke der Konkretisierung, noch kleinere Einheiten wie Stämme, Familien oder einzelne Personen einzubeziehen, wird sehr lückenhaft. Im Sinne einer größeren Anschaulichkeit sind diese Versuche aber als Gegenbild zu systematisierender Abstraktion zu begrüßen, z.B. Simon Sebag Montefiore: Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit 

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Weltgeschichte (Weltgeschichtsschreibung)

https://de.wikipedia.org/wiki/Menschheitsgeschichte

https://de.wikibooks.org/wiki/Geschichte_der_Menschheit:_Chronologische_Gesamtdarstellung

https://de.wikipedia.org/wiki/Weltgeschichte#Zeitgen%C3%B6ssische_Werke_der_Weltgeschichte_/_World_History

https://de.wikipedia.org/wiki/Weltgeschichte_in_genau_drei_Minuten

https://de.wikipedia.org/wiki/Weit._Die_Geschichte_von_einem_Weg_um_die_Welt                (aktuelle menschliche Vielfalt)






https://de.wikibooks.org/wiki/Geschichte_der_Menschheit:_Chronologische_Gesamtdarstellung


Mittwoch, 27. Dezember 2023

Simon Sebag Montefiore: Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit

 Simon Sebag Montefiore: (original: The World: A Family History) deutsch: 2023, 1534 Seiten

Das Gegenteil der notwendig abstrahierenden Darstellung der Menschheitsgeschichte in der Wikipedia.

Der Trick ist, dass der Verfasser Osterhammels Methode der Darstellung des Gleichzeitigen und des Kulturbereich-Spezifischen aufgreift und tatsächlich auf (mehr oder minder!) die gesamte per Tradition überlieferte Geschichte anwendet und andererseits konsequent Strukturbetrachtung zugunsten von Personalisierung zurückstellt.

Zitate:

"Ein Erfolg für die Amerikaner war, dass sie die Ukraine und Kasachstan davon überzeugen konnten, die [...) Atomwaffen aufzugeben" (S.1389)
"In diesem Werk [...] verwebt Montefiore die Geschichte von Dienern, Höflingen, Königen, Eroberern, Predigern und Philosophen, die Geschichte gemacht haben. Eine brilliante Synthese, die selbst den Belesensten neue Einblicke geben wird." (Henry Kissinger), S.1466.

Auf S.1389 wird auch der sprichwörtliche Taxifahrer (in diesem Fall der gerade arbeitslose Putin) zitiert, der vom "Ende des historischen Russland unter dem Namen der Sowjetunion" spricht.

Zum Inhalt

Earl Grey, Palmerston (fragwürdige Kompromisse)
Gezo von Dahomey  stellte die Wirtschaft um, so dass andere Exportgüter als Sklaven verkauft werden konnten, doch intensivierte er gleichzeitig den Sklavenhandel auf 10 000 Sklaven pro Jahr und finanzierte damit eine "Streitmacht aus 3000 bis 6000 Kriegerinnen, [...]. Die Frauen wurden bereits mit acht Jahren zu Kriegerinnen ausgebildet und durften  weder heiraten noch Sex haben - außer mit dem König" (S.929)". (S.928-930)

Besonders kenntnisreich ist Montefiore in der Geschichte Russlands und der Sowjetunion, das zeigt sich u.a. in seiner Darstellung der Herrschaft Jelzins (S.1380ff.), die hier als Beispiel herangezogen, aber wegen des Copyrights durch die Version der englischen Wikipedia in Maschinenübersetzung angedeutet wird: 
"Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 1996 wie auch 1993 hatte Jelzin laut Korzhakov nicht die Absicht, den Kreml zu verlassen, und war bereit, alles zu tun, um seinen Verbleib zu sichern. Jelzin fühlte sich frei, seine Verachtung für demokratische Prinzipien in der Gegenwart von Korzhakov zum Ausdruck zu bringen. Einige Episoden, von denen der Autor berichtet, erinnern fast an die Nixon-Jahre und die veröffentlichten Watergate-Bänder. Korschakow zufolge erörterten Jelzin und sein Premierminister Viktor Tschernomyrdin im Sommer 1996 die sehr ernste Möglichkeit, die Präsidentschaftswahlen abzusagen. Korzhakov fügt mehrere wichtige Details hinzu, die möglicherweise die Ansicht bestätigen, dass der Kreml während des Präsidentschaftswahlkampfes 1996 gegen viele demokratische Regeln verstoßen hat. Er erklärt auch ausführlich die Geschichte, wie die Leute von Anatoli Tschubais versuchten, dem Kreml illegal 500 000 Dollar abzunehmen.

Demokratische Institutionen wie das Parlament und die Gerichte spielten im Leben des Kremls eine äußerst begrenzte Rolle und hatten keinen Einfluss auf den Entscheidungsprozess. Stattdessen erweist sich Jelzins Familie laut Korzhakov als führende politische Institution in Russland. Korschakow kommt zu dem Schluss, dass Jelzin bei seinen Entscheidungen nicht von den Interessen des Staates, sondern von seinem eigenen Familienclan geleitet wurde.

Alexander Litwinenko - ein ehemaliger KGB/FSB-Offizier, der Anfang/Mitte der 2000er Jahre die Seiten wechselte - gibt in seinem Buch "Blowing Up Russia" Korschakow (zusammen mit Barsukow) die Schuld: nur "ihre Geldgier" sei der Grund für den ersten und teilweise auch für den zweiten Tschetschenienkrieg gewesen.

Die Leute um Jelzin
Korzhakov behauptet, dass der Kreml von verschiedenen unkonventionellen Führern wie Leibwächtern wie Korzhakov selbst geleitet wurde. In dem Buch gesteht Korzhakov, dass er und der FSB-Chef Mikhail Barsukov, ein weiteres Mitglied von Jelzins Garde, "das Land drei Jahre lang regiert haben".

Korzhakov zeichnet ein interessantes Porträt der Menschen im Umfeld Jelzins, von denen nur wenige als moralisch und intellektuell höherstehend dargestellt werden als der Autor. Korzhakov beschreibt die Atmosphäre im Umfeld Jelzins als von ungezügelter Vetternwirtschaft geprägt, ein fruchtbarer Boden für Intrigen zwischen denjenigen, die um das Ohr des Präsidenten kämpfen.

Sogar der Gedanke an Mord schwebt in den späten 1990er Jahren über dem Kreml. Die Aufforderungen und Versprechungen von Kremlmitgliedern, ihre politischen Rivalen zu ermorden, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Im Jahr 1999 wiederholte Korschakow die Behauptung, der Finanzmogul Boris Beresowski habe versucht, ihn zur Ermordung des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, des Finanzmagnaten und NTV-Gründers Wladimir Gusinski sowie des Schlagersängers und Duma-Abgeordneten Iosif Kobzon, eines Verbündeten Luschkows, zu überreden." (Wikipedia)

Montefiore betont freilich im Unterschied zu Korzhakov auch die Rolle von Jelzins Tochter Tatjana (S.1383). 

Dazu die deutsche Wikipedia über die Sieben-Bankiers-Bande:
"Trotz interner Spaltungen hatten sie sich informell zusammengeschlossen, um Boris Jelzin bei der Präsidentschaftswahl in Russland 1996 mit Hilfe von Finanzierungen über Jelzins Tochter Tatjana die Wiederwahl als Präsident Russlands zu sichern.[1][2] Beim zweiten Wahlgang am 3. Juli 1996 erhielt Jelzin 53,8 % der Stimmen.[3] Im Zuge der Entwicklungen in der Geschichte Russlands kurz vor der Jahrtausendwende (z. B. Rubelkrise ab 1998, Aufstieg Putins) verloren die meisten der 1996 noch führenden Bankiers zunehmend ihre Bedeutung."

Ohne dass man annehmen muss, dass M.s Darstellung immer historisch korrekt ist, zeigt dieses Beispiel wie z.B. auch das der syrischen und koreanischen Diktatoren, dass auch aktuell Verwandtschaft eine wichtige Rolle für die Verteilung und Erhaltung politischer Macht spielen kann. (S.1384-88)

Armut in der Spätantike und heute

 Wenn man aufgrund der inzwischen recht hohen Qualität und wegen des leichten Zugriffs auf die Wikipedia gewohnt ist, sich weitgehend dort ü...