Sonntag, 7. Mai 2023

Die Revolutionen von 1848 in gesamteuropäischer Perspektive (Jürgen Osterhammel)

 "[...] Es war die größte und umfassendste Revolutionsbewegung in der europäischen Geschichte. Überall gab es Angriffe auf die herrschenden politischen Ordnungen, Forderungen nach bürgerlichen Rechten, Verfassungen, Parlamenten. Nicht von dieser Bewegung erfasst worden zu sein, war ein Ausnahmefall. Das Zarenreich unter Nikolaus I., dem „Gendarmen Europas“, wehrte alle Revolutionsimpulse ab, machte die Grenzen dicht. Es war gewarnt, weil es in seinen Grenzen den großen Unruhefaktor Polen hatte, wo 1830/31 ein großer Aufstand nur mühsam unterdrückt werden konnte. Erst nach der militärischen Niederlage im Krimkrieg (1853-56) erkannte die zarische Herrschaft in den sechziger Jahren die Notwendigkeit von Reformen, vor allem der Befreiung der bäuerlichen Leibeigenen. Allerdings blieb die absolute Monarchie bestehen, ein Sonderweg in Europa. [...]

Großbritannien war als frühe konstitutionelle Monarchie das Vorbild der gemäßigten Liberalen auf dem europäischen Kontinent. Auf der britischen Insel hatte es bereits eine breite Bewegung des sozialen Protests gegeben, den Chartismus, der Anfang der 1840er Jahre einige seiner Ziele erreicht hatte, andere nicht, und 1848 bereits im Niedergang war. Die britische politische und gesellschaftliche Elite war erfahren im Ablenken von Spannungen und hat das auch 1848 erfolgreich praktiziert. Sie hat Spannungen in die Kolonien abgelenkt. Es galt, die Mittelschicht ruhig zu halten, indem man sie finanziell möglichst wenig belastete. Der britische Staat steigerte die finanziellen Bürden der Kolonien, etwa in Ceylon (Sri Lanka), und nahm dort durch Steuererhöhungen ausgelöste Proteste in Kauf. [...]

[Zur welthistorischen Auswirkung:]

Die Taiping-Revolution in China (da sie vollkommen scheiterte, oft nur als „Aufstand“ bezeichnet), die 1850 begann, erst 1864 endete und viele Millionen Tote forderte, oder 1857/58 den Großen Aufstand in Indien gegen die britische Kolonialherrschaft, beides Bewegungen, die von der Revolution von 1848 in Europa nicht beeinflusst waren. Die Taiping-Revolution war die blutigste Umwälzung des 19. Jahrhunderts. Sie erhielt einen gewissen Anstoß durch Kontakte ihres wichtigsten Führers mit christlichen Missionaren, aber das hatte nichts mit 1848 zu tun, niemand in China hörte von der „Paulskirche“. China war jedoch keineswegs ganz isoliert: Nachrichten von Goldfunden in Kalifornien 1849 locken sofort chinesische Glücksritter an. Auch Japan blieb von 1848 unberührt, wie überhaupt alle nicht-kolonisierten Gebiete der außereuropäischen Welt. Die Wirkungszusammenhänge waren primär atlantische. Schon die Französische Revolution war in ein transatlantisches Geschehen eingebettet. Man spricht heute von den Atlantischen Revolutionen, die in den britischen Kolonien in Nordamerika begannen, in Haiti einen gewaltsamen Höhepunkt erreichten und mit den Unabhängigkeitsrevolutionen in Lateinamerika endeten. Zwischen 1775 und 1825 erfasste ein gigantischer Revolutionszyklus den atlantischen Raum. Das wiederholte sich 1848 nicht, aber selbstverständlich existierten transatlantische Kontakte. Das Verhältnis zwischen den USA und Europa war zwar keine „Freundschaft“, aber die stärkste interkontinentale Beziehung, die Europa schon damals hatte. [...]

„Demokratie“ bedeutete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Selbstregierung mit allmählich immer locker werdenden Bindungen an das imperiale Zentrum in London. Australien zum Beispiel war ab 1907 faktisch ein sich parlamentarisch selbst regierender Nationalstaat. In den allermeisten Kolonien – und es gab davon 1898 viel mehr als fünfzig Jahre zuvor – konnte von Demokratie keine Rede sein. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts führte dann eine neue „eurasische“ Revolutionswelle dazu, dass in Russland, China, dem Iran und dem Osmanischen Reich absolute Monarchien konstitutionelle Zugeständnisse machten oder – wie in China 1911 – ganz zusammenbrachen.

Wie steht 1848 zur Idee der „Global Assembly“?

Wenn man heute im Sinne der Initiative global ausblickt, ist „1848“ eine produktiv nutzbare Chiffre für zukunftsorientierte Beratschlagung. Man kann sich die etwa 800 Leute, es waren nur Männer, recht gut vorstellen, die sich (niemals alle gleichzeitig) 1848 zusammensetzten und über grundlegende Verfassungsfragen berieten. Das ist einprägsam, es hat einen großen Symbolwert. Obwohl die Revolution von 1848/49 selbst kein globales Ereignis war, sondern ein europäisches und sogar gesamteuropäisches, ist die Paulskirche ein guter Ausgangspunkt, um alte und neue Themen global weiterzudenken. Die persönlichen Freiheitsrechte, die damals diskutiert wurden, haben eine Tradition, die sogar älter ist als die Französische Revolution, die wiederum die Menschen- und Bürgerrechte auf die historische Tagesordnung setzte. In vielen Ländern der Welt sind diese universalen Rechte, die man nicht als „eurozentrisch“ kleinreden darf, in keiner Weise realisiert und garantiert. Sie sind, um Ernst Bloch, den Philosophen der Hoffnung, zu zitieren, ein „unabgegoltenes Erbe“ der Revolution von 1848." (1848 war eine Lektion“ Interview mit Jürgen Osterhammel Frankfurter Rundschau 7.5.2023)

Armut in der Spätantike und heute

 Wenn man aufgrund der inzwischen recht hohen Qualität und wegen des leichten Zugriffs auf die Wikipedia gewohnt ist, sich weitgehend dort ü...