Mittwoch, 19. Oktober 2022

J. Osterhammel: Unterschiedliche Zeiterfahrungen in einer globalisierten Welt

 "[...] Hat die Geschichte ein Ziel?

Gerade in der Globalgeschichte müssen wir verschiedene Zeitvorstellungen und Zeitmuster neben-einander geltenlassen. Früher war die Annahme verbreitet, die sogenannten „Außereuropäer“ hingen zyklischen Vorstellungen von einer in mehr oder weniger großen Abständen immer wieder dasselbe hervorbringenden Geschichte an, während wir überlegenen Europäer den Zeitpfeil und mit ihm den Fortschritt entdeckt hätten. Gewiss, es gibt Fortschritt, es gibt Aufholjagden, aber es gibt auch Regression. Sie können nicht nur nacheinander auftreten, sondern auch gleichzeitig. Es gibt auch in der Moderne stillstehende Zeit, Stagnation. Mit all dem muss der Historiker – nun gar der Globalhistoriker – rechnen.

Sie sagen das heute. In einer globalisierten Welt, die doch eine Zeitrichtung hat? Wir alle blicken auf dieselben Börsen und spekulieren mit derselben Zukunft.

Die Standards sind nahe aneinandergerückt, die Maßstäbe sind oft dieselben. Aber gerade dadurch treten auch neue Widersprüche auf. Zum Beispiel der zwischen der Vernichtung von Dauer durch planetarische Gleichzeitigkeit auf der einen Seite und auf der anderen, der immensen Bedeutung des Wartens. Denken Sie an die Millionen Menschen in Flüchtlingslagern, die nichts anderes tun als warten. Da rast die Zeit nicht. Da steht sie bleiern still. Oder: Sie gerät in einen Leerlauf. Vielleicht wird das Warten umso schmerzhafter, je mehr die Zeit sich anderswo beschleunigt. Hier bewirkt die Globalisierung gerade nicht eine Vereinheitlichung von Zeiterfahrungen, sondern deren Auseinanderdriften. [...]"

(WELTGESCHICHTE: "Grenzen sind eine Illusion" Franfurter Rundschau 22.9.2012 (Osterhammel im Inerview mit Arno Widmann))

Sonntag, 9. Oktober 2022

Kolonialreiche im 18. Jahrhundert

 Auch amerikanische Walfänger gehören zur Kulturgeschichte Europas

"[...] Der britische Markt für Walfischtran begann bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich flauer zu werden, denn man verwendete in zunehmendem Maß Leuchtgas und Paraffin, die beide billiger waren; dagegen konnten sich die Walfänger von Neuengland eines ständig zunehmenden Binnenmarkts – in der Hauptsache in den ländlichen Gebieten – erfreuen. Bis zum Jahre 1820 hatten die Bewohner von Neuengland ihre alte Vorherrschaft wieder hergestellt; um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren mehr als drei Viertel der gesamten Walfangflotte der Welt in amerikanischen Händen, und die englischen Walfangschiffe waren fast ganz aus dem pazifischen Raum und aus den südlichen Breiten verschwunden.

Während nun die Britten damit begannen, Ostaustralien und Nordwestamerika – jedes auf eine begrenzte und ganz spezielle Art – zu besiedeln, war die Europäisierung der Inseln im pazifischen Ozean im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert in erster Linie das Werk der amerikanischen Walfänger und Händler. Diese Männer waren gewissermaßen das nautische Pendant zu jenen Pionieren, die den amerikanischen Westen besiedelten, und sie waren ebenso wie jene repräsentativ für die vermutlich wohl destruktivste Gesellschaft, die es auf der Welt jemals gegeben hat. Sie beuteten die Inseln wie völlig zügellose Privatunternehmen aus; es gab damals dort keine verantwortliche Regierung, die sie in irgendeiner Form zur Mäßigung gezwungen oder einer Kontrolle unterworfen hätte. Den Walen selbst war nicht sofort dasselbe Los beschieden wie den Seeottern; das blieb späteren Zeiten vorbehalten, in denen die Jäger in starkem Maß mit mechanischen Hilfsmitteln arbeiteten. Auch die Polynesier erlitten nicht gleich das Schicksal der Mohawks, denn weder die Walfischjäger noch die Händler ließen sich für dauernd in ihrem Territorium nieder. (S.508/509)

Jürgen Osterhammel zum Walfang:

"[...] Der Walfang erreichte den Höhepunkt seiner internationalen Bedeutung etwa zwischen 1820 und 1860. [...] Neuentdeckungen von Walpopulationen lösten "Ölkämpfe" zwischen einzelnen Schiffen und ganzen nationalen Flotten aus, die an den Goldrausch in Kalifornien oder Australien erinnerten. [...] 1848 reiche Walfanggründe entdeckt, vor allem bevölkert von dem heute fast verschwundenen Grönlandwal, die wichtigste Entdeckung überhaupt im Walfang des 19.Jahrhunderts, denn keine Walart liefert durch ihre Barten besseres "Fischbein".  Sie führte zur ersten kommerziellen Präsenz der USA im maritimen Norden, [...] Das Interesse der USA an Alaska wäre ohne diese vorausgehende Entwicklung kaum denkbar. [...] 

Die 1870er Jahre waren eine allgemeine Krisenzeit für den amerikanischen Walfang. Die einstweilige Rettung kam von der Nachfrageseite durch das neue Schönheitsideal der Wespentaille und die dadurch gestiegenen Ansprüche an eine Korsett-Technik, die auf die feste Elastizität von Fischbeinstäbchen angewiesen war. Es lohnte sich jetzt, noch weiter auf dem Meer vorzudringen. [...]

Das einzige nicht-westliche Volk, das unabhängig von westlichen Einflüssen Walen nachstellte, waren die Japaner. [...]  Seit dem späten 17.Jahrhundert verwandte man statt des Harpunierens die Methode, Wale (die vor Japan zumeist zu kleineren und langsamer schwimmenden Arten gehören) von Booten aus in große Netze zu treiben. Die Verarbeitung der Wale, bei der nichts ungenutzt blieb, geschah nicht auf Schiffen (wie bei den US-whalers), sondern an Land. [...]

(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.556/57)

Das Erschreckende: Die Europäisierung Neuenglands (und der angehenden USA) hat zu der nach John H. Parry "vermutlich wohl destruktivste[n] Gesellschaft, die es auf der Welt jemals gegeben hat" (S.509) geführt. Parrys Urteil geht selbstverständlich vor allem auf den auf Völkermord hinauslaufenden Umgang mit der indigenen Bevölkerung Nordamerikas zurück, die er in anderem Zusammenhang behandelt.


Von den Gründen des Niedergangs der polynesischen Kultur

Einflüsse von außen auf Polynesien  (Wikipedia)

Königreich Tahiti (Wikipedia)

Geschichte Tahitis (Wikipedia)

[...] die Polynesier erlitten nicht gleich das Schicksal der Mohawks, denn weder die Walfischjäger noch die Händler ließen sich für dauernd in ihrem Territorium nieder. Dass man jedoch diese wilden Horden von disziplinlosen Seeleuten auf die Inselbevölkerung losließ, erschütterte die fragilen Gesellschaftsstrukturen der Inselbewohner. In Tahiti hatte der Zerfall der polynesischen Lebensformen fast gleichzeitig mit dem Besuch der ersten Europäer auf dieser Insel begonnen. Sowohl Cook als auch Bougainville hatten diese Entwicklung vorausgesagt, und beide hatten auch die Faktoren richtig erkannt, die die Hauptschuld an dieser Entwicklung trugen: die bekannte Gruppe ansteckender Krankheit – einschließlich der Geschlechtskrankheiten –, die sich unter den isolierten Völkern, denen es an entsprechender Immunität mangelte, rasend schnell ausbreiteten; eine gefährliche Abhängigkeit von europäischen Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen und eine sich daraus konsequent ergebende Vernachlässigung angeborene Kunstfertigkeiten, die bis zu deren völligem Verlust reichte; schließlich noch eine zunehmende Missachtung der traditionellen Disziplin und eine Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen, mit deren Hilfe sie bisher aufrecht erhalten worden war. Diese Entwicklung wurde natürlich dadurch gefördert, dass sich im Inselbereich mächtige fremde Männer befanden, denen gegenüber diese Sanktionen wirkungslos waren.

Nach seinem zweiten Besuch auf Tahiti im Jahr 1792 berichtete Bligh, dass bereits Waldfangschiffe die Insel anliefen; die Herstellung von Steinäxten und von tapa – Kleidung aus Feigenbaumbast, deren Schönheit Cook so gerühmt hatte – war fast völlig eingestellt worden; viele Eingeborenen hatten ihre anmutige eigene Kleidung weggeworfen und dafür die abgelegten Kleidungsstücke der Seeleute angezogen, und selbst ihre Sprache hatte sich mit einer Art englischem Jargon durchsetzt. Sie waren schmutzig geworden, viele Inselbewohner infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten, und diese Krankheiten breiteten sich mit rasender Eile weiter aus. (S. 508-510)

"Rum und Feuerwaffen verstärkten noch die Auflösungserscheinungen. Viele Einwohner Tahitis waren nach den Angaben von Blei bereits dem Alkohol verfallen. Cooks alter Freund Tu (Pomare I.) hatte von den Meuterer der Bounty eine Anzahl von Musketen erworben, und er war auf dem besten Weg, nunmehr das zu werden, wofür Cook ihn ursprünglich bereits gehalten hatte, nämlich Oberhäuptling eines Großteils dieser Insel. Sowohl Rum als auch Musketen waren wertvolle Handelsartikel, mit denen die Besatzungen der Walfangfänger für die benötigten Lebensmittelvorräte bezahlten. Die Macht eines Häuptlings wurde nach der Zahl der europäischen Waffen bemessen, die er besaß. Die Musketen verstärkten die zerstörenden Kräfte der zahlreichen Stammeskriege und führten zu einem rücksichtslosen Despotismus im Verhalten der Häuptlinge. Der Besitz solcher Feuerwaffen verlieh den Diensten jener Männer, die diese Waffen zu gebrauchen wussten und die sie auch – was im Grunde noch wichtiger war – reparieren konnten, eine ganz besondere Bedeutung.

Darauf beruhte auch die Bedeutung der so genannten "Strandläufer" (beachcombers) – Meuterer, Ausgesetzte, Deserteure von Walfangschiffen und entflohene Sträflinge aus Neusüdwales: diese Männer gliedern sich in die polynesischen Gesellschaft ein, sie akzeptierten die polynesischen Lebensweise, sie bauten die Ressentiments der Polynesier dadurch ab, dass sie anfangs völlig hilflos waren, und sie wurden später häufig zu Protégés der polynesischen Häuptlinge. Viele von ihnen hatten nur den einzigen Wunsch, in einer Art alkoholischen Dämmerzustand am Strand zu liegen und sich dort zu sonnen; aber es gab auch "Strandläufer", die als Händler, Söldner, Politiker und in einigen kleinen Orten sogar als örtliche Herrscher auftraten; indirekt trugen sie alle dazu bei, die Gesellschaft, die sie tolerierte, zu unterminieren.

Am anderen Ende der breiten Skala europäischer Eindringlinge standen die Missionare. Das 18. Jahrhundert war in keinem Teil Europas ein ausgesprochen religiöses Zeitalter. Der Versuch, mit großem Eifer die Eingeborenen zu Christen zu bekehren, fand daher weder in Regierungskreisen noch bei der Aristokratie – und nicht einmal bei den anerkannten Kirchengemeinschaften selbst – besondere Unterstützung. Weder die Kurie in Rom, noch irgendeiner der großen katholischen Orden, noch die wohl etablierten Missionsgesellschaften der anglikanischen Kirche machten sich sofort daran, das Evangelium in der Südsee zu verbreiten. Die London Missionary Society repräsentierte die Dissidenten der englischen Mittelklasse, die die Autorität der englischen Staatskirche nicht anerkannten; es handelte sich dabei um eine Gruppe, die – abgesehen von einigen halbherzigen Versuchen in Neuengland während des 17. Jahrhunderts – sich bisher niemals mit der Verkündigung Verkündung des Evangeliums außerhalb Europas befasst hatte. Unter den 39 Menschen die im Jahr 1797 mit der Duff in Tahiti eintrafen, befanden sich vier nonkonformistische Priester; die übrigen waren Handwerker, von denen einige auch ihre Frauen und Kinder mitgebracht hatten. Sie standen in schärfsten Gegensatz zu allen dort anwesenden Gruppen: zu den Polynesien; zu den vorübergehend dort anwesenden Walfängern und den raffgierigen "Strandläufern" aller Schattierungen; zu den sich zwar distanziert verhaltenden, dabei aber doch neugierigen Seeoffizieren aus der Cookschen Schule; schließlich auch dem vornehmen wissenschaftlichen Zirkel von Banks und seinen Freunden. Sie waren eine tapfere Gruppe, die keine Hilfe von Außenstehenden zu erwarten hatte, und daher ist ihr Erfolg bei der Verkündigung des Evangeliums umso bemerkenswerter. Er ist zumindest teilweise, zweifellos auf ihrer rückhaltlose Hingabe und auf ihre absolute Gewissheit zurückzuführen - hier gab es doch endlich etwas Sicheres und Vorhersagbares in einer aus den Fugen geratenen Welt; der Erfolg war aber andererseits auch darauf zurückzuführen, dass sie sich mit ihrer Umsicht und Ihrer Hartnäckigkeit die Unterstützung der führenden einheimischen Häuptlinge zu sichern wussten." (Seite 510-512)

(John H. Parry: Europäische Kolonialreiche. Welthandel und Weltherrschaft im 18. Jahrhundert, Kindlers Kulturgeschichte Europas, Copyright Parry 1971, dtv 1983)

Armut in der Spätantike und heute

 Wenn man aufgrund der inzwischen recht hohen Qualität und wegen des leichten Zugriffs auf die Wikipedia gewohnt ist, sich weitgehend dort ü...