Marcus Jauer: Ostdeutschland: Der Traum von einer besseren DDR
ZEIT, 29.10.24
Wer das politische Drama der Ostdeutschen verstehen will, muss auf den 4. November 1989 schauen: den Tag, an dem auf dem Alexanderplatz in Berlin "das Volk" seine Zukunft selbst in die Hand nehmen wollte.[...]
Wären die Ostdeutschen in einem eigenen Staat womöglich glücklicher geworden?
Eine hypothetische Frage, aber betrachtet man sie vom 4. November aus, wirkt der Herbst 1989 wie ein aus freien Stücken abgebrochener Versuch der Selbstbestimmung. Die DDR-Bürger gingen in den Westen, in der Annahme, sie würden Deutsche werden, stattdessen wurden sie Ostdeutsche. Statt eines vereinten Landes entstand im Osten eine Identität, die sich in Abgrenzung zum Westen begreift und in Wirklichkeit eine Sackgasse ist. In einer Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet, ist man, solange man sich vor allem als Ostdeutscher begreift, strukturell stets in der Minderheit.
Die verschiedenen Parteien, mit denen die Ostdeutschen die politische Landschaft der gesamten Bundesrepublik verändert haben, angefangen von der PDS über die AfD bis zum Bündnis Sahra Wagenknecht, wären so gesehen ein Versuch, die eigenen Angelegenheiten wieder in die Hand zu bekommen, ohne in einem eigenen Staat zu leben. In dieser merkwürdigen Doppelexistenz liegt die geschichtliche Tragik des Ostdeutschen – ein Zuwanderer zu sein, der auf seinem eigenen Territorium geblieben ist und doch in dem Gefühl lebt, seine Heimat verloren zu haben."
Eine bedenkenswerte Sicht auf die Geschichte Ostdeutschlands.
Gelungene Formulierungen, die freilich nur einen Teil der heutigen Wirklichkeit treffen.
"In einer Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet, ist man, solange man sich vor allem als Ostdeutscher begreift, strukturell stets in der Minderheit."
Als Bayer, der sich vor allem als Bayer begreift, ist man nicht "strukturell stets in der Minderheit", sondern als Christdemokrat Teil einer relativen Mehrheit, genauso, wie man sich vor allem als Rheinländer begreift.
"ein Versuch, die eigenen Angelegenheiten wieder in die Hand zu bekommen, ohne in einem eigenen Staat zu leben"
Den Versuch machte vor allem eine Minderheit von Bürgern der DDR, die einen dritten Weg gehen wollten. Die Mehrheit machte den Versuch nicht mit.
"Tragik des Ostdeutschen – ein Zuwanderer zu sein, der auf seinem eigenen Territorium geblieben ist und doch in dem Gefühl lebt, seine Heimat verloren zu haben".
Zuwanderer waren die vielen - vor allem jungen - Leute, die nach der Vereinigung in den Westen gingen. Die, die blieben, verloren nicht ihre Heimat, sondern ihre gesellschaftliche Sicherheit. Dafür sprechen Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar, Günter Grass: Weites Feld.
Was dabei übergangen wird: Es gab eine PDS mit Gregor Gysi als Vorsitzendem, die primäre eine Kümmererpartei war.
Die AfD ist eine Sammelpartei für alle Unzufriedenen, die durch die Coronamaßnahmen und durch die unzureichend sozial abgefederten Transformationsversuche vor allem bei parteipolitisch nicht gebundenen Wählern große Anziehung erreichte. Der rechtsradikale Flügel versucht mitnichten "die eigenen [ostdeutschen] Angelegenheiten wieder in die Hand zu bekommen,
sondern eine gesamtstaatliche Rechtsradikalsierung zu erreichen. Das BSW versucht, die ursprüngliche soziale Orientierung der WASG aufzugreifen und durch die aktuelle Problematik der Integration Geflüchteter zu ergänzen in strikter Abgrenzung von AfD und identitären Bestrebungen innerhalb der Linken.
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