Samstag, 13. Dezember 2025

Eine alternative Geschichte der Ukraine

 2023 habe ich mich etwas ausführlicher mit Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart beschäftigt und Auszüge aus diesem Buch hier festgehalten. Unter anderem diese Beschäftigung führte zu meinem Vergleich von Nahost- und Ukrainekonflikt. Um diese Darstellung etwas differenzierter zu gestalten, halte ich hier die Darstellung von Hannes Hofbauer in den Nachdenkseiten fest:

Vom Kampf um die Ukraine

"Wir wollen mit dem Kampf um die Ukraine beginnen, dem – wie schon der Name sagt – Grenzland zwischen Ost und West. Er weist eine lange Geschichte auf. Die erste große Konfrontation spaltete die orthodoxe Bevölkerung von Polen-Litauen, die im 16. Jahrhundert vom heutigen Weißrussland im Westen bis zur Dnjepr-Insel Chortyzija bei Saporischschja im Osten lebte. Von Rom entsandte Jesuiten predigten gegen die „Ungläubigen“ des Moskauer Patriarchats und bauten jenen Druck auf, der mithilfe des polnischen Adels im Jahr 1596 zur „Union von Brest“ führte. Mit diesem Vertrag unterwarfen sich orthodoxe Priester mitsamt den ihnen anvertrauten Seelen und Kirchenhäusern dem Recht der katholischen Kirche. Die orthodoxe Liturgie durfte beibehalten werden, der Papst in Rom bestimmte aber fürderhin über Priesterschaft und Kirchengüter. Griechisch-katholisch bzw. uniert nannte man in den folgenden Jahrhunderten die Christen im Westen der späteren Ukraine. Volksaufstände gegen die polnische Herrschaft und die aufoktroyierte Kirchenunion gipfelten im Kosaken-Hetmanat des Bogdan Chmelnizkij in der Mitte des 17. Jahrhunderts.

Bis zur ersten modernen ukrainischen Staatlichkeit sollten noch 250 Jahre vergehen. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges überstürzten sich die Ereignisse. Die Februar-Revolution von 1917 fegte die zaristische Herrschaft hinweg, die im Westen bis an die habsburgischen Kronländer Galizien und Bukowina reichte. In Kiew bildete sich sogleich eine Zentralna Rada (Zentralrat), die am 12. Januar 1918 die „Ukrainische Volksrepublik“ als unabhängigen Staat ausrief. Einen Monat zuvor, am 12. Dezember 1917, wurde in der Arbeiterhochburg Charkow/Charkiw die Gründungsurkunde der „Ukrainischen Sowjetrepublik“ unterzeichnet. Damit standen einander Volksrepublik und Sowjetrepublik gegenüber. Beide beanspruchten eine territorial umfassende Staatlichkeit für sich. In Kiew war man bäuerlich-bürgerlich, in Charkow proletarisch-revolutionär orientiert. Dazu kam noch die bakunistisch-anarchistische Machnowschtschina, benannt nach ihrem Führer Nestor Machno, der zwischen 1917 und 1921 einen freien Rajon in der Größe von 80.000 Quadratkilometern mit sieben Millionen Einwohnern im Süden und Osten der späteren Ukraine verwaltete.

Parallel zu den von Leo Trotzki als Vertreter der Sowjets geführten Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk schlossen die bereits arg in Bedrängnis geratenen Monarchien der Hohenzollern und der Habsburger am 27. Januar 1918 [Datierung nach dem julianischen Kalender] einen Separatfrieden mit der Kiewer Rada, den sogenannten Brotfrieden. Für die Anerkennung der bürgerlichen „Ukrainischen Volksrepublik“ verlangten Berlin und Wien Getreidelieferungen, um damit die Hungernden zu Hause ernähren zu können. Zur militärischen Absicherung dieses gegen die Sowjetrepubliken in Charkow und Donezk-Kriwoj-Rog gerichteten Separatabkommens marschierte die österreichisch-ungarische Armee bis Odessa, während die Preußen ihre Interessen von Kiew aus kontrollierten. Das Ende der deutsch bzw. österreichisch geführten Ukraine näherte sich im Juni 1920 mit dem Vormarsch der Bolschewiken. Die „Ukrainische Sowjetrepublik“ beließ vorerst ihre Hauptstadt in Charkow, erst 1934 verlieh man Kiew diesen Status.

Der nächste deutsche Vorstoß kam am 22. Juni 1941. Drei Millionen Wehrmachtssoldaten überrannten die Ukraine und hinterließen verbrannte Städte und fünf Millionen Tote. Das hastig eingerichtete „Reichkommissariat Ukraine“ plante die Vernichtung großer Teile der slawischen und jüdischen Bevölkerung und deren Ersetzung durch die Ansiedlung von 20 Millionen Deutschen. Der fruchtbarste Boden Europas, die ukrainische Schwarzerde, sollte in Zukunft den deutschen „Herrenmenschen“ ernähren. Dazu wurden an vielen Stellen des Reiches Bauern zu Verwaltern von landwirtschaftlichen Gütern im Osten ausgebildet. Der Autor dieser Zeilen war mit einem solchen präsumtiven Verwalter befreundet, der als junger Bauer auf waggonweise herbeigeschaffter Schwarzerde im damals ostmärkischen Waldviertel den Anbau von Getreidesorten übte. Vier Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion endete der deutsch-nationale Traum von einem „Raum ohne Volk“ im bislang schrecklichsten Albtraum. Die Spitzen der Wehrmacht-freundlichen „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN) wie Stepan Bandera und sein Stellvertreter Jaroslaw Stezko zogen mit den deutschen Truppen ab und fanden in München politisches Asyl.

Unmittelbar nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991, die vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion ohne Volksbefragung erfolgte, begann die nächste Runde im Kampf um die Ukraine. Auch diesmal ging es, wie 400 Jahre zuvor, anfangs um die religiös-kulturelle Orientierung und die dazugehörige Hardware, die Kirchenhäuser. Die in der Sowjetunion verbotenen und in den Untergrund getriebenen griechisch-katholischen Kleriker kehrten mit Unterstützung der Benediktiner des Wiener Schottenstiftes auf das Feld Gottes zurück – und kämpften im Westen der Ukraine um materielle Pfründe und menschliche Seelen. Anlässlich des 89. Ökumenischen Symposiums der Kirchenstiftung Pro Oriente, die sich vor allem um die Heimholung östlicher, orthodoxer Gläubiger ins römische Papstreich kümmert, fand eine denkwürdige Konfrontation zwischen Moskauer und römischen Kirchenfürsten statt. Die Veranstaltung, an der im Juni 1998 Hunderte Honoratioren und politisch einflussreiche Persönlichkeiten in den Räumen der Wiener Akademie der Wissenschaften teilnahmen, stand unter dem Titel „Orthodoxe und Griechisch-Katholische in der Westukraine“. Zwei Stunden lang warfen Bischof Avhustin vom Moskauer Patriarchat aus Lwiw/Lwow und der griechisch-katholische Auxiliar Lubomir Husar einander gegenseitigen Mord und Totschlag vor. Die Wiedervereinnahmung der Kirchenhäuser in den römisch-westlichen Orbit forderte ihre Opfer. 20 Jahre später, während der orangenen Revolution am Kiewer Maidan im Herbst 2004, brüstete sich die rechtsradikale Partei Swoboda auf ihrer Homepage damit, schon beim Kirchenkampf der 1990er-Jahre gegen die „Moskowiter“ aktiv gewesen zu sein.

Im Winter 2004/2005 wurde der west-östliche Kampf um die Ukraine rund um die Präsidentenwahlen ausgetragen. In der Stichwahl zwischen Wiktor Janukowitsch und Wiktor Juschtschenko obsiegte Ersterer mit 49,4 Prozent gegenüber 46,7 Prozent. Verlierer Juschtschenko galt als Mann des Westens, während Janukowitsch auf die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland setzte. Straßenproteste mit Zigtausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern forderten die Wiederholung der Stichwahl, weil Nachwahlbefragungen ein anderes Resultat ergeben hatten und Manipulationen während des Wahlvorgangs vermutet wurden. Vom Westen ausgebildete und über die Konrad-Adenauer-Stiftung und die von George Soros gegründete Open Society Foundation finanzierte NGOs radikalisierten den Protest, damals angeführt von den gewaltbereiten Nationalisten der Gruppe „Pora!“ („Es ist Zeit!“). Tatsächlich kam es am 26. Dezember 2004 zu einer Wiederholung der Stichwahl, die nun Juschtschenko mit 54 Prozent gegen 46 Prozent für sich entschied. Brüssel und Washington konnten sich am Sieg ihres Kandidaten indes nicht lange erfreuen. Im Machtkampf um die Führung zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Timoschenko zerrieb sich das westliche Lager.

Jedem Beobachter, der in den Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung die Ukraine bereiste und sich nicht nur in den westlichen, ehemals habsburgischen Oblasten aufhielt, musste die extreme Spaltung des Landes aufgefallen sein. Die Ukraine war (und ist) ein vielfach geteiltes Land: wirtschaftlich in einen agrarischen Westen und einen industriellen Osten sowie kulturell und historisch in einen griechisch-katholischen Westen und einen orthodoxen Osten und Süden. Politisch zeigt sich diese Zerrissenheit bei den Wahlen. Die von Janukowitsch letztlich gewonnenen Präsidentschaftswahlen 2010, die letzten vor den seit 2014 anhaltenden militärischen Konfrontationen, geben ein Zeugnis dieser Teilung ab. Während im Westen in den Bezirken Lwiw und Iwano-Frankiwsk die europäisch orientierte Timoschenko auf 86 bis 88 Prozent der Stimmen kam, siegte Janukowitsch auf der Krim und im Donbass mit 89 bzw. 90 Prozent. Kein Land der Welt kann eine solche politische Zerrissenheit langfristig überleben.

Brüssels Vormarsch

Die vielfach unterschätzte, wenn nicht sogar ignorierte Rolle der Europäischen Union bei der Einkreisung Russlands begann spätestens im Jahr 2008. Nur ein Jahr nach dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien trafen sich die europäischen Außenminister am 28. Mai 2008 und setzten den vom Schweden Carl Bildt und dem Polen Radosław Sikorski ausgeheckten Plan zur fortgesetzten Osterweitung auf Schiene. Mit der sogenannten „Östlichen Partnerschaft“ sollten sechs ex-sowjetische Republiken ökonomisch und militärisch an die Brüsseler Union angebunden werden, ohne ihnen eine direkte Mitgliedschaft anzubieten. Dafür auserkoren waren Georgien, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan, Belarus und die Ukraine. De facto war dies ein militärisch abzusicherndes Freihandelsangebot, um die sechs Staaten aus dem russischen Einfluss herauszulösen und sie für westeuropäisches Kapital zu öffnen. Die entsprechenden Schlagworte lauteten: institution building, energy security und economic integration. Auf verständlicheres Deutsch wären diese Programmpunkte mit Schaffung einer EU-kompatiblen Administration, Abnabelung von russischer Energie und Marktöffnung für EU-Konzerne zu übersetzen. Belarus und Aserbaidschan sahen sich aus innenpolitischen Gründen bald in der zweiten Reihe, für die übrigen vier Staaten sollte im November 2013 ein sogenanntes Assoziierungsabkommen am EU-Gipfel von Vilnius unterzeichnet werden.

Der Kreml war allerdings in der Zwischenzeit nicht säumig gewesen. Seine Emissäre, allen voran der Ökonom Sergej Glasjew, zogen mit Zuckerbrot und Peitsche durch die von Brüssel ins Visier genommenen Republiken. Armenien und die Ukraine konnten im letzten Moment – nicht zuletzt über den Energiepreis – überzeugt werden, das EU-Angebot abzulehnen. Nur Georgien und Moldawien unterschrieben die Vereinbarung. Der Gipfel von Vilnius endete somit in einem Debakel; einzig jene zwei Republiken, deren Regierungen nicht über ihr gesamtes Staatsterritorium herrschten (Abchasien, Südossetien und Transnistrien standen und stehen bis heute nicht unter der Kontrolle von Tiflis bzw. Chișinău), unterschrieben die Abkommen.

Insbesondere das Njet des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch schmerzte Brüssel. Kommissionspräsident José Barroso akzeptierte das ukrainische Nein nicht und setzte auf die Straße, wo anfänglicher Studentenprotest rasch von rechtsradikalen Kräften unterwandert wurde. Gemeinsam mit EU-Außenministern wie Guido Westerwelle gingen die Maidan-Kräfte im Dezember 2013 daran, die unter den Bürgern verbreitete Unzufriedenheit zu instrumentalisieren. Die Folgen sind bekannt: Janukowitsch wurde verfassungswidrig aus dem Amt vertrieben, die Ukraine zerfiel als Staat. Die Krim schloss sich der Russländischen Föderation an, die Anti-Maidan-Kräfte im Donbass gründeten die Donezker und Luhansker Volksrepubliken, und die neue, mit bedeutsamer westlicher Hilfe an die Macht gespülte Regierung in Kiew begann einen Bürgerkrieg gegen die Sezessionisten im Osten. Slowjansk war die erste Stadt im Donbass, die am 2. Mai 2014 aus der Luft von Kiewer Militäreinheiten angegriffen wurde.

Mit dem Regimewechsel vom Februar 2014 war es den USA – unter der Federführung der Sondergesandten Viktoria Nuland – gelungen, Brüssel als Drahtzieher für das weitere Schicksal der (Rest-)Ukraine abzulösen. Gemeinsam entwickelten Washington und Brüssel im März 2014 die Grundlagen für eine seit damals immer umfassender werdende Sanktionspolitik gegen Russland, die in der Geschichte beispiellos ist. Längst ist sie zu einem veritablen Wirtschaftskrieg ausgewachsen."

(https://www.nachdenkseiten.de/?p=143538)

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