Warum die Deutschen erst jetzt genauer hinschauen, was ihre eigenen Familien im Nationalsozialismus getan haben. ZEIT 24.4.2025 von Louis Lewitan und Stephan Lebert
"Ihre Großmutter erzählte ihr am Sterbebett folgende Geschichte: Sie sei von den Nazis ausgesucht worden, die Juden in ihrem Heimatort Kassel nach Geld und Wertsachen auszufragen, bevor sie deportiert wurden. Sie wirke so freundlich, hatten die Nazis gesagt, so nett, dass man ihr diese Aufgabe zutrauen würde, herauszufinden, was bei den Juden alles zu holen sei. Und sie hat es gemacht, sie ist ein widerlicher Spitzel geworden. Ihre Großmutter, sagt die Frau in dem Berliner Café, habe diese Geschichte ein Leben lang für sich behalten. [...]
Guttenberg galt bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2011 als politischer Superstar. Der CSU-Politiker war Wirtschaftsminister und dann Verteidigungsminister im Kabinett Merkel. [...]
Da ist zum einen die Familie Guttenberg, die tief im Widerstand gegen die Nazis verwurzelt war; ein Onkel, der zum weiteren Kreis der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 gehört hatte, wurde von der SS erschossen. Ein anderer Onkel starb unter dubiosen Umständen. Zum anderen trennten sich die Eltern von Karl-Theodor zu Guttenberg, als er noch klein war – und seine Mutter heiratete Adolf von Ribbentrop, den Sohn des Nazi-Außenministers Joachim von Ribbentrop. Guttenbergs Stiefvater war elf, als sein Vater im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess hingerichtet wurde. Guttenberg sagt, er habe sich immer gewundert, warum er fast nie zu seiner vielschichtigen Herkunft gefragt wurde, "so eine Familienkombination hat ja nicht jeder". [...]
Schäuble zitiert den Philosophen Hermann Lübbe, der den Begriff des "kommunikativen Beschweigens" schuf. Der kollektive Beschluss der Deutschen, die eigene Mitschuld zu verschweigen, hat nach Lübbes Überzeugung überhaupt erst ermöglicht, die Deutschen so unmittelbar nach dem Zivilisationsbruch in einen demokratischen Staat zu integrieren. Kommunikatives Beschweigen als Überlebensstrategie. Heute lässt sich studieren, was dafür in den einzelnen Familien für ein Preis bezahlt wurde. Wir sind auf nie aufgelöste Familiengeheimnisse gestoßen, die zu Suiziden, Depressionen, Missbrauch geführt haben. Am Anfang war oft nur eine Ahnung, am Ende eine Gewissheit, die trotz aller Schmerzen als Befreiung empfunden wurde."
Was hier berichtet wird, entspricht dem, was Besuchern in Deutschland in den ersten Monaten nach der Kapitulation und Befreiung begegnet ist: Eine Generation, die den Krieg als Unglück erlebt hat und - verständlicherweise - die Schuld nicht bei sich gesucht hat.
Dafür hatte sie zu viel Druck und Unfreiheit in ihrem Staat erlebt und andererseits zu viel Gewalt von außen erfahren.
Die große Leistung war es, dass diese Haltung durch viel Aufklärungsarbeit und internationalen Austausch überwunden werden konnte und nach 40 Jahren die Rede von Richard von Weizsäcker so große Zustimmung erfahren hat.
35 Jahre nach der Befreiung von der SED-Herrschaft ist davon sehr wenig zu spüren, wohl weil das Schicksal für Ost- und Westdeutsche zu unterschiedlich war. Die Bezeichnung Besserwessi sagt manches darüber. (vgl. Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar, Szenen aus einem besetzten Land)
Mein Onkel Heinrich Groth, überzeugter Nationalsozialist, hat mitnichten beschwiegen, sondern 1984 eine 248 Seiten lange Autobiographie geschrieben, die er nicht seinen Geschwistern oder ichten und Neffen, sondern all seinen Großnichten und Großneffen zugedacht hat, von denen er hoffte, besser verstanden zu werden, als von den Mitgliedern seiner eigenen und der nächsten Folgegeneration. ("Ein Zitat daraus über die Entnazifizierung: "12 Jahre Tausendjähriges Reich, und 1000 Jahre Entnazifizierung!", so hieß die Parole." - S.82)
Wichtig sind alle Berichte: Von Zeitzeugen und von Nachkommen über ihre Erfahrungen mit der Generation, die von der NS-Herrschaft geprägt wurde.
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