Antje Vollmer:
Was ich noch zu sagen hätte
Vermächtnis einer Pazifistin
Ich stand auf dem Bahnhof meiner Heimatstadt und wartete auf den ICE. Plötzlich näherte sich auf dem
Nebengleis ein riesiger Geleitzug, vollbeladen mit Panzern – mit Mardern, Geparden oder Leoparden. Ich kann
das nicht unterscheiden, aber ich konnte schockartig das Bild lesen. Der Transport fuhr von West nach Ost. Es
war nicht schwer, sich das Gegenbild vorzustellen. Irgendwo im Osten des Kontinents rollten zur gleichen Zeit
Militärtransporte voller russischer Kampfpanzer von Ost nach West. Sie würden sich nicht zu einer
Panzerschlacht im Stile des ersten Weltkrieges irgendwo in der Ukraine treffen. Nein, sie würden diesmal
erneut den waffenstarrenden Abgrund zwischen zwei Machtblöcken markieren, an dem die Welt sich vielleicht
zum letzten Mal in einer Konfrontation mit möglicherweise apokalyptischem Ausgang gegenübersteht. Wir
befanden uns also wieder im Kalten Krieg und in einer Spirale der gegenseitigen existentiellen Bedrohung –
ohne Ausweg, ohne Perspektive. Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in
diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.
Es ist üblich geworden zu Beginn jeder Erwähnung der ungeheuren Tragödie um den Ukraine-Krieg wie eine
Schwurformel von der „Zeitenwende“, vom völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg Putins bei
feststehender Alleinschuld der russischen Seite zu reden und demütig zu bekennen, wie sehr man sich geirrt
habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versöhnung mit Russland nach der großen Wende
1989/90. Diese Schwurformel wird wie ein Ritual eingefordert, wie ein Kotau, um überhaupt weiter mitreden
zu dürfen. Die Feststellung ist ja auch nicht falsch, sie verdeckt aber häufig genau die Fragen, die es im Zentrum
eigentlich zu klären gäbe. Wo genau begann die Niederlage? Wo begann der Irrtum? Wann und wie entstand
aus einer der glücklichsten Phasen in der Geschichte des eurasischen Kontinents, nach dem nahezu
gewaltfreien Ende des Kalten Krieges, diese erneute tödliche Eskalation von Krieg, Gewalt und
Blockkonfrontation? Wer hatte Interesse daran, dass die damals mögliche friedliche Koexistenz zwischen Ost
und West nicht zustande kam, sondern einem erneuten weltweitem Antagonismus anheimfiel? Und dann die
Fragen aller Fragen: Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen
Tragödien und machtpolitischen Irrwegen nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision für den
bedrohten Planeten zu werden?
Für die Deutung historischer Ereignisse ist es immer entscheidend, mit welchen Aspekten man beginnt, eine
Geschichte zu erzählen.
Ich widerspreche der heute üblichen These, 1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung
gegeben, die dann Schritt um Schritt einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin
zerstört worden sei, bis es schließlich zum Ausbruch des Ukraine-Krieges kam. Das ist nicht richtig: 1989 ist eine
Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax Atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue
Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die
visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um ein haltbares Konzept
einer europäischen stabilen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion
nunmehr einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.
Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun: Zum einen wurde
der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler
Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig die historische
Niederlage des Ostens besiegele. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklären, ist eine alte westliche Hybris und
seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen. Die Unfähigkeit,
andere gleichberechtigte Lösungen nach so umfassenden Umbrüchen zu suchen, hat in dieser fatalen
Überheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure einzigartige Verdienst der
sowjetischen Führung unter Michael Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes
Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das
Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich.
Das aber war es gerade nicht. Bis heute ist erstaunlich, ja unfassbar, wie wenig Gewicht dem beigemessen
wurde, dass die Auflösung eines sowjetischen Weltimperiums nahezu gewaltfrei vonstatten ging. Die naive
Beschreibung eines dermaßen einmaligen Vorgangs lautete dann etwa so: Wie ein Kartenhaus, hochverdient
und unvermeidlich sei da ein ganzes System in sich zusammengesackt. Dass gerade diese Gewaltfreiheit das
größte Wunder in der Reihe wundersamer Ereignisse war, wurde kein eigenes Thema. Es wurde vielmehr als
Schwäche gedeutet. Es gibt aber kaum Vorbilder in der Geschichte für einen solchen Vorgang. Selbst die
schwächsten Gewaltregime neigen gerade im Stadium ihres Untergangs gesetzmäßig dazu, eine Orgie von
Gewalt, Zerstörung und Selbstzerstörung anzurichten und alles mit in ihren eigenen Untergang mitzureißen –
wie exemplarisch beim Untergang des NS-Reiches zu sehen war.
Die Sowjetunion des Jahres 1989 unter Gorbatschow, wiewohl politisch und wirtschaftlich geschwächt,
verfügte über das größte Atompotential, sie hatte eigene Truppen auf dem gesamten Gebiet ihrer Herrschaft
stationiert. Es wäre ein leichtes gewesen, das alles zu mobilisieren. Das wurde ja auch von vielen Vertretern
des alten Regimes vehement gefordert. Mit dem historischen Abstand wird noch viel deutlicher als heute klar
werden, welche staatsmännische Leistung es war, lieber „Helden des Rückzugs“ (Enzensberger) zu sein, als in
einem letzten Aufbäumen als blutiger Rächer und Schlächter von der Geschichte abzutreten. Die Wahl, die
Michael Gorbatschow fast allein getroffen hat, hat ihm nicht zuletzt die Enttäuschung vieler seiner Bürger
eingebracht. Es hieß, er habe nachträglich den großen vaterländischen Krieg verloren.
Wie ein stummes Mahnmal gigantischer europäischer Undankbarkeit steht dafür der erschreckend private
Charakter der Trauerfeier um den wohl größten Staatsmann unserer Zeit auf dem Moskauer ProminentenFriedhof. Es wäre ein Gebot der Stunde gewesen, dass die Granden Europas Michail Gorbatschow, der längst
im eigenen Land isoliert war, ihre Hochachtung und ihren Respekt erwiesen hätten, indem sie sich vor ihm
verneigten. Zumindest aus Deutschland, das ihm fast allein das Glück der Wiedervereinigung verdankte, hätte
ein Bundespräsident Steinmeier an diesem Grab stehen müssen. Die Einsamkeit um diesen Toten war
unerträglich. So nutzte ausgerechnet Viktor Orban die Chance, diesen Boykott einer angemessenen Würdigung
zu unterlaufen. Es bleibt ein beschämendes Zeichen, ein Menetekel von historischer Ignoranz. Wenige Tage
später drängelten sich die Repräsentanten des europäischen Zeitgeistes dann alle mediengerecht am Grab der
englischen Queen und des deutschen Papstes Benedict XVI.
Bis heute ist mir schwer verständlich, warum es nicht zumindest eine Demonstration der Dankbarkeit bei den
eigentlichen Profiteuren dieses Gewaltverzichtes, bei den Bewegungen der friedliche Bürger-Proteste gegeben
hat. Gerade sie hatten ja hautnah die Ängste erfahren, was alles hätte passieren können, wenn es 1989 in
Ostberlin eine Reaktion wie bei den Studenten-Protesten in Peking gegeben hätte. Und tatsächlich ist ein Teil
der heutigen Zurückhaltung im Osten Deutschlands gegenüber der einseitigen Anprangerung Russlands wohl
dieser anhaltenden Dankbarkeit zuzuschreiben. Mediale Wortführer und Interpreten aber wurden andere –
und sie wurden immer dreister. Immer kleiner wurde in ihren Interpretationen der Anteil am Verdienst der
Gewaltfreiheit auf sowjetischer Seite, immer wirkmächtiger wurde die Legende von der eigenen großartigen
Widerstandsleistung. Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und der Heldenmut von
Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Göring-Eckardt durchaus maßvoll war und den Grad
überlebenstüchtiger Anpassung nicht wesentlich überschritt. Manche Selbstbeschreibungen lesen sich
allerdings heute wie Hochstapelei. Sie verschweigen und verkennen, was andere zum großen Wandel
beitrugen und dass mancher Reformer im System keineswegs weniger Einsatz und Mut gewagt hat.
Das mag menschlich, allzu menschlich sein und also nicht weiter erwähnenswert. Fatal allerdings ist, dass
dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments
zählt. Er knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten Antistalinismus
über den verständlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von
westlichen Feindbildern bis heute prägt.
Die wichtigsten Fragen, die heute zwischen Ost und West strittig verhandelt werden müssten, lauten: Was
bedeutet es eigentlich, eine europäische Nation zu sein? Was unterscheidet uns von anderen? Welche
Fähigkeiten muss eine Nation erwerben, um dazu zu gehören? Was sind die Lehren unserer Geschichte?
Welche Ideale prägen uns? Welche Irrtümer und Verbrechen? Sie alle werden in aller Deutlichkeit
wachgerufen am Beispiel der Ukraine und ihres Abwehrkampfes gegen die russische Aggression.
In unseren Medien verkörpert die Ukraine das Ideal und Vorbild einer freiheitsliebenden westlichen
Demokratie heroischen Zuschnitts. Die Ukraine, so heißt es, kämpfe nicht nur für ihre eigene Nation, sondern
zugleich für die historische universale Mission des Westens. Wer sich machtpolitisch behauptet, wer seine
Existenz mit blutigen Opfern und Waffen verteidigt, gilt als Bollwerk für die europäischen Ideale der Freiheit,
koste es, was es wolle. Wer aber den Weg des Konsenses, der Kooperation, der Verständigung und der
Versöhnung sucht, gilt als schwach und deswegen als irrelevant, ja als verächtlich. Von daher sind Gorbatschow
und Selenskyj die eigentlichen Antitypen in der Frage, was es heute heißt, Europäer zu sein und die
europäischen Tugenden zu verkörpern.
Neben diesem Hang zum Heroischen und zur Selbsterhöhung liegt hier die Wurzel, die ich für den Grundirrtum
einer europäischen Identität halte: Das ist das scheinbar unausrottbare Bedürfnis nach nationalem
Chauvinismus. Jahrhundertelang haben nationale Exzesse die Geschichte unseres Kontinents geprägt. Keine
Nation war frei davon: nicht die Franzosen, schon gar nicht die Briten, nicht die Spanier, nicht die Polen, nicht
die Ukrainer, nicht die Balten, nicht die Schweden, nicht die Russen, noch nicht einmal die Tschechen - und
schon gar nicht die Deutschen. Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen
imperialen Mächte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist
Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer. Er verführt auch heute noch viele junge
Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte und
Gewaltphantasien für berechtigt zu halten. Was Europa immer wieder zu lernen hatte und historisch meist
verfehlte, ist die Kunst der Selbstbegrenzung, der friedlichen Nachbarschaft, der Fairness, der Wahrung
gegenseitiger Interessen und des Respektes voreinander. Was Europa endlich verlernen muss, ist dagegen das
ständige Verteilen von Ketzerhüten, das ausmachen von Achsen des Bösen und von immer neuen
Schurkenstaaten.
Ach Europa! Jedes Mal, wenn wieder eine der großen Krisen und Kriege des Kontinents überstanden war –
nach dem 30-jährigen Krieg, nach dem Feldzug Napoleons gegen Russland, nach zwei Weltkriegen, nach dem
Kalten Krieg - konnte man hoffen, der machtpolitische Irrweg sei nun durch bittere Erfahrung widerlegt und
gebe einem überlebenstüchtigeren Weltverständnis endlich Raum. Und jedes Mal fielen wie durch einen Fluch
die Völker Europas wieder der Versuchung anheim, den Weg der Dominanz und der Konfrontation zu gehen.
Umso wertvoller ist aber das große Gegenbeispiel: Gorbatschows Hoffnung, dass auch für alle ehemaligen
Staaten der SU eine neue Sicherheitsordnung gefunden würde, die den unterschiedlichen
Sicherheitsbedürfnissen gerecht werden würde, war der Charta von Paris durchaus angedacht als Raum
gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Kooperation zwischen dem alten Westeuropa und den neuen
östlichen Staaten. Das war damals auch die Vision von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Aber es gab
keinen Plan, kein Konzept, die Vision war einfach zu undeutlich.
Wie schnell sich wieder das Gefühl des leichten Triumphes einstellte, lässt sich an einem traurigen Beispiel gut
ablesen: Am Umgang mit Jugoslawien. Jugoslawien gehörte zu den blockfreien Staaten, es hatte sich
rechtzeitig vom Stalinismus gelöst. Es hatte die jahrhundertealten nationalen Rivalitäten aus der Zeit der
Donau-Monarchie einigermaßen befriedet. Es wäre nichts leichter gewesen, als diesem Jugoslawien als
Ganzem 1989 eine Öffnung nach Europa und zur EU anzubieten. Es hätte Zeit gebraucht, aber es wäre möglich
gewesen. Man hätte nur darauf verzichten müssen, dem nationalen Drängen der Slowenen und Kroaten zu
schnell nachzugeben und das neue Feindbild der allein aggressiven Serben zu pflegen. Solche Weisheit
allerdings fehlte völlig im Überbietungswettstreit um die Anerkennung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan.
Der bosnische Bürgerkrieg, Srebrenica, die Zerstörung Sarajewos, Hunderttausende Tote und traumatisierte
Menschen, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO gegen Belgrad, die völkerrechtswidrige
Anerkennung des Kosovo als selbständiger Staat, das vielfältige Aufbäumen von neuen nationalen
Chauvinismen wären vermeidbar gewesen.
Was bedeutet das alles für die unmittelbare Gegenwart und für die deutsche Politik im Jahre 2023?
Die Koordinaten haben sich entscheidend verschoben. Bis zum Ende der Regierung Schröder konnte man
davon ausgehen, dass gerade Deutschland aus der Zeit der Entspannungspolitik einen privilegierten Zugang,
zumindest einen gewissen Spielraum zum Konfliktausgleich zwischen den großen geopolitischen
Spannungsherden innehatte. Diese Zeit ist endgültig vorbei. Ungefähr im Jahre 2008 begann Putin dem zu
misstrauen und seinen Machtbereich gegen den Westen auszurichten. Deutschland begann sich als
europäischer Riegenführer im neuen Konzept der NATO zu definieren. Im Rahmen der Reaktionen auf den
Ukrainekrieg rückte es endgültig ins Zentrum der antirussischen Gegenstrategien. Das begrüßenswerte, aber
medial vielgescholtene Zögern des Kanzlers Olaf Scholz war zu wenig von einer haltbaten politischen
Alternative unterfüttert und geriet so ins Rutschen. Wirtschaftlich und politisch zahlen wir dafür einen hohen
Preis. Der deutsche Wirtschaftsminister bemüht sich, die alten Abhängigkeiten von Russland und China durch
neue Abhängigkeiten zu Staaten zu ersetzen, die keineswegs als Musterdemokratien durchgehen können. Die
Außenministerin ist die schrillste Trompete der neuen antagonistischen NATO-Strategie. Ihre Begründungen
verblüffen durch argumentative Schlichtheit. Dabei wachsen die Rüstungskosten und der Einfluss der
Rüstungs- und Energiekonzerne ins Unermessliche. Der Krieg verschlingt sinnlos die Milliarden, die für die
Rettung des Planeten und die Armut des globalen Südens dringend gebraucht würden. Das aufsteigende China
aber wird propagandistisch als neuer geopolitischer Gegner ausgemacht und in der Taiwan-Frage ständig
provoziert. Das sind alles keine guten Auspizien.
Und dennoch: Wenn mich nicht alles täuscht, steht Europa kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die
das eigene Selbstbild tief erschüttern wird. Für mich aber ist das ein Grund zur Hoffnung. Der so selbstgewisse
Westen muss einfach lernen, dass die übrige Welt unser Selbstbild nicht teilt und uns nicht beistehen wird. Die
eilig ausgesandten Sendboten einer neuen anti-chinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug gegen das Reich
der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein. Wie konnten wir nur annehmen, dass das große China
und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkürlichen Freihandels- und Opium-Kriege je vergessen würden?
Wie sollte der leidgeprüfte afrikanische Kontinent die zwölf Millionen Sklaven und die Ausbeutung all seiner
Bodenschätze je verzeihen? Warum sollten die alten Kulturen Lateinamerikas den spanischen und
portugiesische Konquistadoren ihre Willkürherrschaft vergeben? Warum sollten die indigenen Völker weltweit
das Unrecht illegaler Siedlungen und Landraubs einfach beiseiteschieben in ihrem historischen Gedächtnis?
Meine Hoffnung besteht darin, dass sich aus all dem eine neue Blockfreienbewegung ergeben wird, die nach
der Zeit der vielen Völkerrechtsbrüche wieder am alleinigen Recht der UNO arbeiten wird, dem Frieden und
der Überlebensfähigkeit des ganzen Planeten zu dienen.
Meine ganz persönliche Niederlage wird mich die letzten Tage begleiten. Gerade die Grünen, meine Partei,
hatte einmal alle Schlüssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt. Sie war durch
glückliche Umstände dieser Botschaft viel näher als alle anderen Parteien. Wir hatten einen echten Schatz zu
hüten: Wir waren nicht eingebunden in die machtpolitische Blocklogik des Kalten Krieges. Wir waren per se
Dissidenten. Wir waren gleichermaßen gegen die Aufrüstung in Ost wie im Westen, wir ahnten die Gefährdung
des Planeten durch ungebremstes Wirtschaftswachstum und Konsumismus. Wer die Welt retten will, musste
ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben, das war eine klare historische
Notwendigkeit, die wir lebten. Wir hatten dieses Zukunfts-Bündnis greifbar in den Händen.
Was hat die heutigen Grünen verführt, all das aufzugeben für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen
geopolitischen Machtpoker und dabei ihre wertvollsten eigenen Wurzeln verächtlich zu machen als lautstarke
Antipazifisten?
Ich erinnere mich an meine großen Vorbilder: Die härtesten Bewährungsproben hatten die großen
Repräsentanten gewaltfreier Strategien immer in den eigenen Reihen auszufechten. Gandhi hat mit zwei
Hungerstreiks versucht, den Rückfall der Hindus und Moslems in die nationalen Chauvinismen zu brechen,
Nelson Mandela hatte äußerste Mühe, die Gewaltbereitschaft seiner jungen Mitstreiter zu brechen, Martin
Luther King musste sich von den Black Panther als zahnloser Onkel Tom verhöhnen lassen. Ihnen wurde nichts
geschenkt. Und das gilt auch heute für uns letzte Pazifisten.
Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit,
gerade in Zeiten großer Krisen und existentieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will,
diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen.
Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.
Gekürzt:
Der Kalte Krieg mit seinen mühsam gebändigten Arsenalen gegenseitiger atomarer Hochrüstung zweier
Supermächte war zwar eine Ordnung, die die Welt in einem Patt gegenseitiger Bedrohung gefangen hielt, eine
Friedensordnung im eigentlichen Wortsinn war es nicht."
Berliner Zeitung 23. Februar 2023 ( Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin: „Was ich noch zu sagen hätte“. In: Berliner Zeitung. 23. Februar 2023)
"[...] „wenn nicht Annalena Baerbock, sondern ihre grüne Parteifreundin Antje Vollmer Außenministerin wäre“, kommentierte Heribert Prantl Vollmers Beitrag als ein „politisches Testament“, in dem sie, ihre Verzweiflung „am bellizistischen Kurs ihrer Partei“ vermächtnishaft darlegend, mit der Ratlosigkeit kämpfe, wie man „jetzt“ mit den Folgen der „politischen Fehler, die seit 1989 gemacht worden“ seien, umgehen solle.[24][Wikipedia]