Samstag, 13. Dezember 2025

Eine alternative Geschichte der Ukraine

 2023 habe ich mich etwas ausführlicher mit Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart beschäftigt und Auszüge aus diesem Buch hier festgehalten. Unter anderem diese Beschäftigung führte zu meinem Vergleich von Nahost- und Ukrainekonflikt. Um diese Darstellung etwas differenzierter zu gestalten, halte ich hier die Darstellung von Hannes Hofbauer in den Nachdenkseiten fest:

Vom Kampf um die Ukraine

"Wir wollen mit dem Kampf um die Ukraine beginnen, dem – wie schon der Name sagt – Grenzland zwischen Ost und West. Er weist eine lange Geschichte auf. Die erste große Konfrontation spaltete die orthodoxe Bevölkerung von Polen-Litauen, die im 16. Jahrhundert vom heutigen Weißrussland im Westen bis zur Dnjepr-Insel Chortyzija bei Saporischschja im Osten lebte. Von Rom entsandte Jesuiten predigten gegen die „Ungläubigen“ des Moskauer Patriarchats und bauten jenen Druck auf, der mithilfe des polnischen Adels im Jahr 1596 zur „Union von Brest“ führte. Mit diesem Vertrag unterwarfen sich orthodoxe Priester mitsamt den ihnen anvertrauten Seelen und Kirchenhäusern dem Recht der katholischen Kirche. Die orthodoxe Liturgie durfte beibehalten werden, der Papst in Rom bestimmte aber fürderhin über Priesterschaft und Kirchengüter. Griechisch-katholisch bzw. uniert nannte man in den folgenden Jahrhunderten die Christen im Westen der späteren Ukraine. Volksaufstände gegen die polnische Herrschaft und die aufoktroyierte Kirchenunion gipfelten im Kosaken-Hetmanat des Bogdan Chmelnizkij in der Mitte des 17. Jahrhunderts.

Bis zur ersten modernen ukrainischen Staatlichkeit sollten noch 250 Jahre vergehen. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges überstürzten sich die Ereignisse. Die Februar-Revolution von 1917 fegte die zaristische Herrschaft hinweg, die im Westen bis an die habsburgischen Kronländer Galizien und Bukowina reichte. In Kiew bildete sich sogleich eine Zentralna Rada (Zentralrat), die am 12. Januar 1918 die „Ukrainische Volksrepublik“ als unabhängigen Staat ausrief. Einen Monat zuvor, am 12. Dezember 1917, wurde in der Arbeiterhochburg Charkow/Charkiw die Gründungsurkunde der „Ukrainischen Sowjetrepublik“ unterzeichnet. Damit standen einander Volksrepublik und Sowjetrepublik gegenüber. Beide beanspruchten eine territorial umfassende Staatlichkeit für sich. In Kiew war man bäuerlich-bürgerlich, in Charkow proletarisch-revolutionär orientiert. Dazu kam noch die bakunistisch-anarchistische Machnowschtschina, benannt nach ihrem Führer Nestor Machno, der zwischen 1917 und 1921 einen freien Rajon in der Größe von 80.000 Quadratkilometern mit sieben Millionen Einwohnern im Süden und Osten der späteren Ukraine verwaltete.

Parallel zu den von Leo Trotzki als Vertreter der Sowjets geführten Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk schlossen die bereits arg in Bedrängnis geratenen Monarchien der Hohenzollern und der Habsburger am 27. Januar 1918 [Datierung nach dem julianischen Kalender] einen Separatfrieden mit der Kiewer Rada, den sogenannten Brotfrieden. Für die Anerkennung der bürgerlichen „Ukrainischen Volksrepublik“ verlangten Berlin und Wien Getreidelieferungen, um damit die Hungernden zu Hause ernähren zu können. Zur militärischen Absicherung dieses gegen die Sowjetrepubliken in Charkow und Donezk-Kriwoj-Rog gerichteten Separatabkommens marschierte die österreichisch-ungarische Armee bis Odessa, während die Preußen ihre Interessen von Kiew aus kontrollierten. Das Ende der deutsch bzw. österreichisch geführten Ukraine näherte sich im Juni 1920 mit dem Vormarsch der Bolschewiken. Die „Ukrainische Sowjetrepublik“ beließ vorerst ihre Hauptstadt in Charkow, erst 1934 verlieh man Kiew diesen Status.

Der nächste deutsche Vorstoß kam am 22. Juni 1941. Drei Millionen Wehrmachtssoldaten überrannten die Ukraine und hinterließen verbrannte Städte und fünf Millionen Tote. Das hastig eingerichtete „Reichkommissariat Ukraine“ plante die Vernichtung großer Teile der slawischen und jüdischen Bevölkerung und deren Ersetzung durch die Ansiedlung von 20 Millionen Deutschen. Der fruchtbarste Boden Europas, die ukrainische Schwarzerde, sollte in Zukunft den deutschen „Herrenmenschen“ ernähren. Dazu wurden an vielen Stellen des Reiches Bauern zu Verwaltern von landwirtschaftlichen Gütern im Osten ausgebildet. Der Autor dieser Zeilen war mit einem solchen präsumtiven Verwalter befreundet, der als junger Bauer auf waggonweise herbeigeschaffter Schwarzerde im damals ostmärkischen Waldviertel den Anbau von Getreidesorten übte. Vier Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion endete der deutsch-nationale Traum von einem „Raum ohne Volk“ im bislang schrecklichsten Albtraum. Die Spitzen der Wehrmacht-freundlichen „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN) wie Stepan Bandera und sein Stellvertreter Jaroslaw Stezko zogen mit den deutschen Truppen ab und fanden in München politisches Asyl.

Unmittelbar nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991, die vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion ohne Volksbefragung erfolgte, begann die nächste Runde im Kampf um die Ukraine. Auch diesmal ging es, wie 400 Jahre zuvor, anfangs um die religiös-kulturelle Orientierung und die dazugehörige Hardware, die Kirchenhäuser. Die in der Sowjetunion verbotenen und in den Untergrund getriebenen griechisch-katholischen Kleriker kehrten mit Unterstützung der Benediktiner des Wiener Schottenstiftes auf das Feld Gottes zurück – und kämpften im Westen der Ukraine um materielle Pfründe und menschliche Seelen. Anlässlich des 89. Ökumenischen Symposiums der Kirchenstiftung Pro Oriente, die sich vor allem um die Heimholung östlicher, orthodoxer Gläubiger ins römische Papstreich kümmert, fand eine denkwürdige Konfrontation zwischen Moskauer und römischen Kirchenfürsten statt. Die Veranstaltung, an der im Juni 1998 Hunderte Honoratioren und politisch einflussreiche Persönlichkeiten in den Räumen der Wiener Akademie der Wissenschaften teilnahmen, stand unter dem Titel „Orthodoxe und Griechisch-Katholische in der Westukraine“. Zwei Stunden lang warfen Bischof Avhustin vom Moskauer Patriarchat aus Lwiw/Lwow und der griechisch-katholische Auxiliar Lubomir Husar einander gegenseitigen Mord und Totschlag vor. Die Wiedervereinnahmung der Kirchenhäuser in den römisch-westlichen Orbit forderte ihre Opfer. 20 Jahre später, während der orangenen Revolution am Kiewer Maidan im Herbst 2004, brüstete sich die rechtsradikale Partei Swoboda auf ihrer Homepage damit, schon beim Kirchenkampf der 1990er-Jahre gegen die „Moskowiter“ aktiv gewesen zu sein.

Im Winter 2004/2005 wurde der west-östliche Kampf um die Ukraine rund um die Präsidentenwahlen ausgetragen. In der Stichwahl zwischen Wiktor Janukowitsch und Wiktor Juschtschenko obsiegte Ersterer mit 49,4 Prozent gegenüber 46,7 Prozent. Verlierer Juschtschenko galt als Mann des Westens, während Janukowitsch auf die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland setzte. Straßenproteste mit Zigtausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern forderten die Wiederholung der Stichwahl, weil Nachwahlbefragungen ein anderes Resultat ergeben hatten und Manipulationen während des Wahlvorgangs vermutet wurden. Vom Westen ausgebildete und über die Konrad-Adenauer-Stiftung und die von George Soros gegründete Open Society Foundation finanzierte NGOs radikalisierten den Protest, damals angeführt von den gewaltbereiten Nationalisten der Gruppe „Pora!“ („Es ist Zeit!“). Tatsächlich kam es am 26. Dezember 2004 zu einer Wiederholung der Stichwahl, die nun Juschtschenko mit 54 Prozent gegen 46 Prozent für sich entschied. Brüssel und Washington konnten sich am Sieg ihres Kandidaten indes nicht lange erfreuen. Im Machtkampf um die Führung zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Timoschenko zerrieb sich das westliche Lager.

Jedem Beobachter, der in den Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung die Ukraine bereiste und sich nicht nur in den westlichen, ehemals habsburgischen Oblasten aufhielt, musste die extreme Spaltung des Landes aufgefallen sein. Die Ukraine war (und ist) ein vielfach geteiltes Land: wirtschaftlich in einen agrarischen Westen und einen industriellen Osten sowie kulturell und historisch in einen griechisch-katholischen Westen und einen orthodoxen Osten und Süden. Politisch zeigt sich diese Zerrissenheit bei den Wahlen. Die von Janukowitsch letztlich gewonnenen Präsidentschaftswahlen 2010, die letzten vor den seit 2014 anhaltenden militärischen Konfrontationen, geben ein Zeugnis dieser Teilung ab. Während im Westen in den Bezirken Lwiw und Iwano-Frankiwsk die europäisch orientierte Timoschenko auf 86 bis 88 Prozent der Stimmen kam, siegte Janukowitsch auf der Krim und im Donbass mit 89 bzw. 90 Prozent. Kein Land der Welt kann eine solche politische Zerrissenheit langfristig überleben.

Brüssels Vormarsch

Die vielfach unterschätzte, wenn nicht sogar ignorierte Rolle der Europäischen Union bei der Einkreisung Russlands begann spätestens im Jahr 2008. Nur ein Jahr nach dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien trafen sich die europäischen Außenminister am 28. Mai 2008 und setzten den vom Schweden Carl Bildt und dem Polen Radosław Sikorski ausgeheckten Plan zur fortgesetzten Osterweitung auf Schiene. Mit der sogenannten „Östlichen Partnerschaft“ sollten sechs ex-sowjetische Republiken ökonomisch und militärisch an die Brüsseler Union angebunden werden, ohne ihnen eine direkte Mitgliedschaft anzubieten. Dafür auserkoren waren Georgien, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan, Belarus und die Ukraine. De facto war dies ein militärisch abzusicherndes Freihandelsangebot, um die sechs Staaten aus dem russischen Einfluss herauszulösen und sie für westeuropäisches Kapital zu öffnen. Die entsprechenden Schlagworte lauteten: institution building, energy security und economic integration. Auf verständlicheres Deutsch wären diese Programmpunkte mit Schaffung einer EU-kompatiblen Administration, Abnabelung von russischer Energie und Marktöffnung für EU-Konzerne zu übersetzen. Belarus und Aserbaidschan sahen sich aus innenpolitischen Gründen bald in der zweiten Reihe, für die übrigen vier Staaten sollte im November 2013 ein sogenanntes Assoziierungsabkommen am EU-Gipfel von Vilnius unterzeichnet werden.

Der Kreml war allerdings in der Zwischenzeit nicht säumig gewesen. Seine Emissäre, allen voran der Ökonom Sergej Glasjew, zogen mit Zuckerbrot und Peitsche durch die von Brüssel ins Visier genommenen Republiken. Armenien und die Ukraine konnten im letzten Moment – nicht zuletzt über den Energiepreis – überzeugt werden, das EU-Angebot abzulehnen. Nur Georgien und Moldawien unterschrieben die Vereinbarung. Der Gipfel von Vilnius endete somit in einem Debakel; einzig jene zwei Republiken, deren Regierungen nicht über ihr gesamtes Staatsterritorium herrschten (Abchasien, Südossetien und Transnistrien standen und stehen bis heute nicht unter der Kontrolle von Tiflis bzw. Chișinău), unterschrieben die Abkommen.

Insbesondere das Njet des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch schmerzte Brüssel. Kommissionspräsident José Barroso akzeptierte das ukrainische Nein nicht und setzte auf die Straße, wo anfänglicher Studentenprotest rasch von rechtsradikalen Kräften unterwandert wurde. Gemeinsam mit EU-Außenministern wie Guido Westerwelle gingen die Maidan-Kräfte im Dezember 2013 daran, die unter den Bürgern verbreitete Unzufriedenheit zu instrumentalisieren. Die Folgen sind bekannt: Janukowitsch wurde verfassungswidrig aus dem Amt vertrieben, die Ukraine zerfiel als Staat. Die Krim schloss sich der Russländischen Föderation an, die Anti-Maidan-Kräfte im Donbass gründeten die Donezker und Luhansker Volksrepubliken, und die neue, mit bedeutsamer westlicher Hilfe an die Macht gespülte Regierung in Kiew begann einen Bürgerkrieg gegen die Sezessionisten im Osten. Slowjansk war die erste Stadt im Donbass, die am 2. Mai 2014 aus der Luft von Kiewer Militäreinheiten angegriffen wurde.

Mit dem Regimewechsel vom Februar 2014 war es den USA – unter der Federführung der Sondergesandten Viktoria Nuland – gelungen, Brüssel als Drahtzieher für das weitere Schicksal der (Rest-)Ukraine abzulösen. Gemeinsam entwickelten Washington und Brüssel im März 2014 die Grundlagen für eine seit damals immer umfassender werdende Sanktionspolitik gegen Russland, die in der Geschichte beispiellos ist. Längst ist sie zu einem veritablen Wirtschaftskrieg ausgewachsen."

(https://www.nachdenkseiten.de/?p=143538)

Mittwoch, 10. Dezember 2025

Peter Longerich: Unwillige Volksgenossen

 Peter Longerich: Unwillige Volksgenossen. Wie die Deutschen zum NS-Regime standen.

Gerd Krumeich und Janosch SteuwerDie Zustimmung der Deutschen im NS-Staat

Natürlich gab es Kritik am Nationalsozialismus und insbesondere an der Partei (wie bei jeder Regierung); aber die Zustimmung  und Bewunderung für die Leistung Hitlers unterschied sich davon enorm: "Wenn das der Führer wüsste" und „Davon haben wir nichts gewusst!“ (das Buch  Peter Longerichs von 2006).

Janosch Stewer: private Tagebücher im Nationalsozialismus


sieh auch:

Christiane Tovar: Heinrich Himmler: Der biedere Massenmörder. (Interview mit dem Himmler-Biographen Peter Longerich.) Auf: Planet Wissen, 28. April 2009.


Donnerstag, 27. November 2025

Das Verhältnis von Deutschland und Ukraine

FR: Wer hat die Ukraine übersehen – und warum?

Schulze Wessel: Die Blindstelle zieht sich durch Politik und Öffentlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie reicht vom schlichten Übersehen über das bewusste Ignorieren bis hin zur aktiven Verdrängung. All das wirkt im deutschen Blick auf die Ukraine zusammen. Die Ukraine war – und ist zum Teil noch immer – ein blinder Fleck im mentalen Kartenwerk der Deutschen. [...]

FR: Steinmeier und Merkel argumentierten lange im Modus von Christopher Clarks „Schlafwandlern“: Jede Eskalation führe in einen großen Krieg – also müsse man sich zurückhalten.

Schulze Wessel: Das ist ein Grundfehler. Man leitete die Politik von einem historischen Szenario ab, das weder 1914 exakt beschreibt noch auf die Gegenwart passt. [...] Doch 2014 und 2022 erneut lag kein Hineinschlittern vor. Es gab einen klar definierten Aggressor. Dass man die Lage in dieses 1914-Narrativ einpasste, war fatal. Sehr viel angemessener wäre das historische Szenario des Zweiten Weltkriegs gewesen: ein aggressiver Staat, der nicht durch wirksames Containment gestoppt wird. Diese Einsicht setzte viel zu spät ein – und bis heute nicht vollständig. [...]

"Man hätte diesen Krieg verhindern können" Martin Schulze Wessel im Interview FR 27.11.25

Fontanefan: Schulze Wessel schreibt Deutschland eine Verantwortung für das Schicksal der Ukraine zu, die der für das Existenzrecht Israels entspreche. Das blendet den entscheidenden Unterschied aus: Der Holocaust ist ein beispielloser Völkermord, der vom deutschen NS-Staat ausging. Der deutsche Versuch, die Ukraine aus dem russischen - später dem sowjetischen - Imperium herauszulösen und in deutsche Abhängigkeit zu bringen, gehörte zu den Weltmachtvorstellungen, die in Deutschland in beiden Weltkriegen eine wichtige Rolle spielten. Das Unrecht, das dadurch für die Ukraine durch die Weckung von Selbständigkeitshoffnungen entstand, war um mehrere Größenordnungen geringer als der Holocaust. Es war aber auch deutlich geringer als das, das den Völkern der Sowjetunion durch den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion zugefügt wurde, und auch geringer als das, das der Bevölkerung der Ukraine in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum sowjetischen Imperium mit dem Holodomor geschah. 

Wenn Deutschland nach 1945 an falschen Hoffnungen für die Ukraine beteiligt war, so geschah das im Rahmen der NATO und der EU. Die NATO ist aber ein Verteidigungsbündnis und nicht eine Organisation zur Auflösung von Imperien. Der Fehler, der der Politik von NATO und der EU und damit bedingt auch der deutschen Außenpolitik vorzuwerfen ist, ist daher nicht, dass sie nicht energisch genug die Auflösung der Imperien Sowjetunion und Russland betrieben hätte, sondern dass sie nicht ernsthaft auf eine Friedensordnung für Gesamteuropa hingearbeitet hat, wie sie zu einer Friedensdividende hätte führen können.

Als Spezialist für osteuropäische Geschichte kennt Schulze Wessel die Einzelheiten der Entwicklungen in Osteuropa weit genauer als ich. Die Vorstellung, NATO und EU hätten die Ukraine in ihre Organisationen aufnehmen sollen, hat erschreckende Ähnlichkeit mit den Weltmachtsvorstellungen Deutschlands, die zu den beiden Weltkriegen geführt haben. 

Mittwoch, 12. November 2025

Ralf Georg Reuth: Goebbels

Ralf Georg Reuth: Joseph Goebbels

Minderwertigkeitskomplexe und abgrundtiefer Hass

Über Ralf Georg Reuths Goebbels-Biografie Von Uwe Ullrich (Literaturkritik 3.3.2013)

 Die Aussagen über Goebbels reichten vor dieser Biographie von „Dämon der Diktatur“ (Werner Stephan) zu  rationaler Propaganda-Macher (Viktor Reimann). 

"[...] Reuth erkennt in seinem 1990 erstmals erschienen Buch Goebbels’ „eitle Selbstbespieglung und autosuggestive Lügenhaftigkeit“ im erst zum Teil erschlossenen schriftlichen Nachlass und ist der grundlegenden Überzeugung, dass der Antisemitismus seines Protagonisten nicht allein mit Opportunismus erklärbar sei und dessen Rolle während der Stennes-Revolte, den Strasser-Krisen, dem „Röhm-Putsch“ und den letzten Tagen im Bunker der Reichskanzlei sich objektiv anders darstellen als sie der Tagebuchschreiber der Nachwelt hinterlassen wollte.

Zwei Dezennien später legt Reuth eine vollkommen überarbeitete Neufassung der Biografie vor. Geblieben sind die Struktur mit ihren Kapitelüberschriften und die Gesamtseitenzahl. Was sich offensichtlich änderte, sind der Umfang der einzelnen Abschnitte, der komprimierte Anmerkungsapparat sowie die stark veränderten Quellen- und Personenverzeichnisse. Auf der Grundlage der seit 2008 vorliegenden, jedoch nicht kommentierten Tagebuchgesamtausgabe von Goebbels, den inzwischen zusammengeführten Aktenbeständen im Bundesarchiv, vielen Schriften und Zeitungsaufsätzen sowie die erstmals in diesem Zusammenhang systematisch durchgesehenen zahlreichen Gerichtsverfahren. Die über einen langen Zeitraum verschollen geglaubten politischen Aufzeichnungen Horst Wessels konnte der Autor in der Jagiellonen-Bibliothek im polnischen Krakau für die Neufassung einsehen. Dem allgemeinen Schema biografischer Literatur entsprechend, ist die Ausführung chronologisch angelegt.

[Diese Ausgabe liegt mir nicht vor, ich zitiere aus der Ausgabe von 1990.]

Kritisch interpretiert Ralf Georg Reuth die kürzlich erschienene Goebbels- Biografie des Londoner Sozialhistorikers Peter Longerich, weil dieser mehr deute – eine unzureichende quellenkritische Distanz zu den Tagebüchern gehe damit einher – als sich mit seinem Gegenstand auseinandersetze. Entstanden sei eine Mischung aus Lebensweg, allgemeiner Geschichte des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Propaganda. Außerdem verzichte er, Reuth, bewusst auf „die in der Zeitgeschichtsschreibung inzwischen gängigen moralischen Wertungen“

Mit dem körperlichen Gebrechen und seinem bisherigen Leben hadernd, zog sich Goebbels nach erfolgter germanistischer Promotion (1921) und vergeblichen Anstrengungen um gutes beruflichem Fortkommen ins elterliche Haus zurück. Auf der Suche nach einer Persönlichkeit, welche ihm und der „gedemütigten“ Nation den Weg weisen könnte, wurde er mit Adolf Hitler fündig. Im Tagebuch vom 13. März 1924 notierte er, dass er sich mit ihm und der nationalsozialistischen Bewegung beschäftige, weil sie sich „mit allen schwierigen Problemen des Abendlandes“ auseinandersetze. Einen ersten Schritt in die politische Neuausrichtung, zu dem Zeitpunkt war der junge Mann sozialistischen Ideen gegenüber nicht abgeneigt, unternahm Goebbels, indem er ein halbes Jahr später am Gründungskongress der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands, einer Nachfolgeorganisation der verbotenen NSDAP, teilnahm.

Kurz darauf war er Mitbegründer der Ortsgruppe der Partei, profilierte sich als Redner und wurde journalistisch tätig. Goebbels programmatische Parteivorstellungen wichen zum Teil erheblich von Hitlers ab, der es aber stets verstand, ihn für seine Zwecke und Interessen, auch gegen dessen zeitweiligen Mentor Gregor Strasser, zu instrumentalisieren. Der „Führer“ ernannte als Vertrauensbeweis seinen Gewährsmann Joseph Goebbels Ende Oktober 1926 zum Gauleiter des desolaten, zerstrittenen und einflusslosen, aber wichtigen Landesverbandes Berlin-Brandenburg.

Als der neu ernannte Funktionär in der Reichhauptstadt aus dem provinziellen Elberfeld eintraf, begab er sich in eine dynamische agierende, verlockend glänzende Großstadt, in der trotz wirtschaftlichem Aufschwungs soziale Gegensätze aufeinanderprallten: prahlerischer Reichtum und bittere Armut. Wie er hier erfolgreich wirken könne, erkannte der Gauleiter schnell und bekundet es in seinem Buch „Kampf um Berlin“ (München 1934) kurzweg: „Berlin braucht seine Sensation wie der Fisch das Wasser. Diese Stadt lebt davon, und jede politische Propaganda wird ihr Ziel verfehlen, die das nicht erkannt hat“. Dabei setzte er neben Kundgebungen auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit ideologischen Feinden, SPD und KPD und deren Formationen, sowie persönliche Beleidigungen Verwaltungsbeamter der Landes- und Reichshauptstadt. Beredt legen eine Fülle von Prozessakten vom Auftreten Zeugnis ab. Seine Kontroverse fand oft im jüdischen Vizepräsidenten der Berliner Polizei, Bernhard Weiß, ihr Ziel. Als Leiter der politischen Polizei veranlasste Weiß ein Parteiverbot der NSDAP. Seitdem verhöhnte ihn Goebbels mit dem Spitznamen „Isidor“ in Reden und Schriften. Und das, obwohl er vor seinem Wechsel nach Berlin kein „Radauantisemit“ sein wollte, bezeichnete der Gauleiter Juden als „Volksfeinde“ und „Bazillen“, die ihr „Gastrecht“ nutzen, um das deutsche Volk mit Betrug und Korruption auszubeuten. Mit dem Verlassen der der Heimat verlor der Propagandist die vorhandenen Rudimente „(klein-)bürgerlicher“ Anständigkeit schnell.

Durch seine „Erfolge“ um Einfluss in Berlin wurde er im April 1930 Reichspropagandaleiter. Damit war Joseph Goebbels für die politische Ausrichtung in der Partei, ihre Wahlkämpfe und Großveranstaltungen, zuständig. Die Presse war ihm versagt, denn hier dominierte sein lebenslanger Rivale um Einflussnahmen, denn Alfred Rosenberg bleibt Schriftleiter des „Völkischen Beobachters“ und stieg 1934 sogar als installiertes Konkurrenzunternehmen zum Reichminister für Volksaufklärung und Propaganda zum „Beauftragten des Führers für die weltanschauliche Überwachung der NSDAP“ auf. Beider Kampf um die Deutungshoheit in der Partei oder kulturellen Fragen füllt eigene Bände.

Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 zu Ministerehren gelangt, schuf sich Goebbels sein eigenes politisches und kulturelles Imperium durch Gleichschaltung von Vereinen und Institutionen. Kurz nach der Amtsübernahme, schon am 24. April 1933, verlieh ihm seine Heimatstadt die Ehrenbürgerschaft. Im Festvortrag bescheinigte Schulleiter Harring dem besten Abiturienten des Jahrgangs 1917, dass dieser eine „Zierde dieser Schule“ und „Stolz dieser Stadt“ sei. Den Grund sah der Direktor darin, dass der „Herr Reichsminister“ einen Entwicklungsweg genommen habe, „den ich den wahrhaft humanistischen nennen möchte“. Den Dank der Ehrenbürgerschaft nahmen auf einer Großkundgebung die Einwohner der Stadt Reydt auf dem überfüllten „Adolf- Hitler-Platz“ entgegen.

Privat hatte Joseph Goebbels vor seiner Ehe mit Magda, geschiedene Quandt, einige flüchtige, zum Teil auch feste Liebschaften. An der Eheschließung im Dezember 1931 nahm Hitler als Trauzeuge teil. Nachdem Goebbels Minister geworden war, leistete sich das Ehepaar einen üppigen Lebensstil. Der von Speer umgebauten Dienstwohnung folgten ein Seegrundstück auf der Insel Schwanenwerder und später ein Landhaus. Sechs Kinder wurden während der Ehe geboren. Auf Amouren ließen sich beide Partner ein.

Mit Kriegsbeginn installierte Reichsminister Goebbels zur wirksamen täglichen Steuerung der Medien Konferenzen im Propagandaministerium: „Ministerkonferenz“, an der die Leiter der politischen Abteilungen des Hauses, Vertreter anderer Dienst[st]ellen und der Wehrmacht teilnahmen. Anschließend folgte die „Tagesparolen-Konferenz“, die Reichspressechef Otto Dietrich leitete und schließlich die Reichspressekonferenz, in der die Berliner Vertreter der Inlandspresse mit Themen und Interpretationen vertraut gemacht wurden. Die Provinzpresse erhielt die Weisungen über „Presse-Rundschreiben“ oder als „Vertrauliche Informationen“.

Um die Intelligenz im In- und Ausland zu erreichen, gab Goebbels die Wochenzeitung „Das Reich“ heraus. Erfolgreich erwies sich sein Ansinnen, denn bis 1944 stieg die Auflage auf 1,4 Millionen Exemplare. Mit allen genannten und ungenannten Mitteln erreichte der umtriebige Reichspropagandaminister die Menschen und spornte sie mit der Parole über den „totalen Krieg“ zu übermenschlichen Leistungen an. Die Schlacht um Berlin begann am Morgen des 16. April 1945. Zweieinhalb Millionen Soldaten der „Roten Armee“, 41.600 Geschütze, 6.250 Panzer und 7.560 Flugzeuge traten nach mehrstündigem Artilleriebeschuss aus ihren Ausgangsstellungen zum Angriff auf die Reichshauptstadt an. Dagegen „bereitenden sich Jugendliche, Greise, Frauen des Volkssturms – die kampffähigsten Verbände hatte Goebbels an die Front geschickt“ – auf die Verteidigung vor. Getrieben von Verzweiflung, Gehorsam und Angst. Es konnte damit nicht die militärische Niederlage, die bedingungslose Kapitulation im Mai 1945 verhindert werden. Diesen Zeitpunkt erlebten Joseph und Magda Goebbels nicht mehr. Ihnen schien das Leben nach dem Selbstmord Hitlers nichts mehr wert. Selbst die Existenz ihrer Kinder löschten sie aus.

Ralf Georg Reuth legt mit der umfangreichen Neubearbeitung seiner Goebbels- Biographie eine lesens- und beachtenswerte Mischung aus Persönlichem und Politischen des Menschen, Politikers, Propagandisten und Intriganten vor. Wie er ihn charakterisierte, beschrieb er ihn: „In seiner Person verbanden sich ein sozial motivierter und aus Minderwertigkeitskomplexen gespeister abgrundtiefer Hass, ein aus katholischer Herkunft resultierendes unbeirrbares Glaubensbedürfnis und eine beachtliche intellektuelle Schärfe und wohl einer einzigartigen Waffe im Dienste der Massenbeeinflussung“.

In den letzten Jahren habe ich mitbekommen, dass Goebbels Tagebücher eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Quelle aus dem Inneren der NSDAP ist, hatte aber nicht realisiert, dass es dabei um 7000 Seiten handschriftlichen und um 30 000 Seiten diktierten Text geht. Angesicht des Umfangs dieser Quelle und des astronomischen Preises selbst der gekürzten Ausgabe von 4 bzw. 5 Bänden habe ich mich entschlossen, den Zugang zu dieser Quelle über die Goebbelsbiographie Ralf Georg Reuths, des Herausgebers dieser gekürzten Tagebuchfassung zu suchen. Ich werde daher in meinen Auszügen aus dem Buch vornehmlich die Person Goebbels und ihre Selbstdarstellung zu berücksichtigen suchen. 

Inhalt

1. Warum hatte Gott ihn so gemacht, dass die Menschen ihn verachteten und verspotteten? (1897-1917) 11ff.
2. Chaos in mir (1917-1921) 29ff.
3. Fort mit dem Zweifel, ich will stark sein und glauben (1921-1923) 56ff.
4. Wer ist dieser Mann? Halbgott! Tatsächlich der Christus, oder nur der Johannes? (1924-1926) 76ff.
5. Berlin… Ein Sündenpfuhl! Und dahinein soll ich mich stürzen? (1926-1928) 108ff.
6. Wir wollen Revolutionäre sein und - auch bleiben (1928-1930) 138ff.
7. Nun sind wir streng legal, egal legal (1930-1931) 163 ff. 
8. Ist es nicht wie ein Wunder, daß ein einfacher Weltkriegs-Gefreiter, die Häuser Hohenzollern und Habsburger            abgelöst hat? (1931-1933) 210ff. 
9. Wir wollen die Menschen so lange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind. (1933) 269 ff.
10. Durch Krisen und Gefahren geht der Weg zu unserer Freiheit (1934-1936) 307 ff.
11. Führer befiehl, wir folgen! (1936-1939)  354 ff.
12. Er steht doch unter dem Schutz des Allmächtigen (1939-1941) 418 ff. 
13. Wollt ihr den totalen Krieg? (1941-1944) 481ff.
14. Rache unsere Tugend, Hass unsere Pflicht! (1944-1945) 548 ff.
15. Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht mehr wert, darin zu leben. (1945)          594 ff.

5. Berlin… Ein Sündenpfuhl! Und dahinein soll ich mich stürzen? (1926-1928) 108ff.   "Am 11. Februar 1927 humpelte der 'braune' Gauleiter im 'roten Wedding' zum Redner-Podest, über den 'Zusammenbruch des bürgerlichen Klassenstaates' zu sprechen. Noch bevor er überhaupt das Wort ergreifen konnte, brach in dem Saalbau, wo sich viele Kommunisten eingefunden hatten, eine wilde Schlacht aus, während der beide Parteien mit Schlagringen und Eisenstangen aufeinander losgingen, Bevor die zahlenmäßig unterlegenen Kommunisten von der inzwischen aufgezogenen Polizei geschützt, das Feld räumten. Das Spektakel war perfekt. Die bürgerlichen, von Göbbels als 'Judenpresse'  verunglimpften Zeitungen berichteten in großer Aufmachung. Erstmals waren die Nationalsozialisten und ihr Gauleiter in aller Munde – freilich nur für einen Tag, ehe die kurzatmige Großstadt für neue Schlagzeilen sorgte." (Seite 116). 

Im Juni 1928 berichtet Goebbels von seinen innerparteilichen Auseinandersetzungen mit den Brüdern Strasser im Zusammenhang mit dem für die NSDAP etwas enttäuschenden Ausgang der Reichstagswahl. 

"Otto stellte fest, dass die Proletarier zu de Kommunisten, den eigentlichen Siegern, gegangen seien. Auch er spielte auf Goebbels an, ohne freilich seinen Artikel dessen Namen zu nennen, sondern von 'tausendmal gescheiten Köpfen' redete.

Solche Attacken steigert Goebbels' Hass ins Grenzenlose. Otto Strasser, der 'Satan', der Bewegung, müsse 'vernichtet' werden, 'koste es, was es wolle', notierte er in seinen Tagebuch, schränkte dann aber so gleich wieder ein, daß man gegen Strasser nicht ankomme. 'Der Schweinehund ist zu gerissen und zu gemein.' Als er zudem erfahren haben wollte, dass Besprechungen stattgefunden hätten, zwischen Otto Strasser, Reventlow und Kaufmann, 'zwecks Gründung einer neuen Partei', in der die sozialistische Linie schärfer betont werden soll', empörte es sich über seinen Widersacher, dem er ja eigentlich politisch näherstand. Es gehe gegen Hitler. 'Die Herren wollen selbst Herr sein. Ich werde auf der Lauer stehen. Ich bin bei Hitler, komme was kommen mag. Und wenn er mich selber ins Gesicht schlägt.'
Nachdem 'sein Chef 'nicht einschritt, obwohl er diesem seine Erkenntnisse mitgeteilt hatte, kokettiert Göbbels mit dem Gedanken, seine 'Demission' einzureichen, weil er den 'Kram leid' habe in Berlin. Er änderte seine Meinung, als Hitler am 14. Juli 1928 – am selben Tag ließ der Reichstag zur Genugtuung des Berliner Gauleiters eine Amnestie für alle vor dem 1. Januar 1928 verübten politischen Straftaten – nach Berlin kam und in einer 'langen persönlichen Aussprache' mit den Strassers die Wogen glättete. Goebbels gegenüber behauptete er, 'scharf gegen Dr. Strasser' vorgegangen zu sein, so dass dieser glaubte, der Kampf-Verlag, der Quell des Strasserschen Einflusses in der norddeutschen Partei, werde nunmehr alsbald 'liquidiert.' Als der geschickt taktierende Hitler sich zudem voll des Lobes für Goebbels' Arbeit zeigte, war bei diesem von einem 'Abdanken' keine Rede mehr: 'Ich bleibe. Der Chef ist hundertprozentig auf meiner Seite.' " (S. 140) 

6. Wir wollen Revolutionäre sein und - auch bleiben (1928-1930) 138ff.
Der NSDAP gelingt es, trotz noch weit kleineren Zahlen an einzelnen Stellen in Saalschlachten zahlenmäßig überlegen zu sein. Der Selbstmord eines SA-Mannes H-G Kütemeyer wird von Goebbels zum "Blutopfer"  stilisiert.  (S.145) Auf die Losung der KPD "Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!" reagiert Goebbels: "Der Kampf wird und muss mit Brachialgewalt durchgefochten. Und das ist gut so" Reuth, S.153)
Mit dem Tod Stresemanns "verlor die Weimarer Koalition ihre zentrale Integrationsfigur. Schon bald sollte sich zeigen, dass in bestimmten Fragen der Sozialpolitik ein Ausgleich zwischen dem Unternehmerflügel der D. V. P. Und dem Gewerkschaftsflügel der S. P. D. nicht mehr möglich war. (S.153) Dies alles trug dazu bei, dass die Nationalsozialisten bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung am 17. November 1929 5,8 % oder 132 097 Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten. Nach den überaus bescheidenen Ergebnissen der vergangenen Wahlen sprach Goebbels von den 'kühnsten Träumen', die sich erfüllt hätten. 'Vor allem in proletarischen Gegenden' glaubte er, 'einen starken Zuwachs' verzeichnen zu können. 'Dem Gesamtmarxismus jagten wir 50 000 Stimmen ab. Das ist das erfreulichste Zeichen. (Goebbels Tagebuch, Reuth S. 155

9. Wir wollen die Menschen so lange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind. (1933) 269 ff.
Bei der Verteilung der Ressorts, die dem Propagandaminnisterium unterstehen sollten,  hatte Hitler zunächst nichts Genaueres festgelegt. Goebbels gelang es aber selbst dem Innenministerium Fricks (S.288) und dem Außenministerium von Neuraths (S.289)  wichtige Ressorts abzunehmen, das Innenministerium, das besonders viele kulturelle Ressorts beherbergte, musste dabei besonders viel abgeben, doch Göring weigerte sich als preußischer Ministerpräsident "die Zuständigkeit der Preußischen Staatstheater vom Gendarmenmarkt bis Unter den Linden aus der Hand zu geben [...] Gemessen an diesen Häusern nämlich verblasste alles, was an Theatern unter Goebbels' Kontrolle stand, doch Göring ließ sich diesen Schatz nicht entwinden, obwohl Goebbels es wieder und wieder versuchte. "(S. 289)
Dagegen erhielt Goebbels die Vollmacht, 'die Angehörigen der Tätigkeitszweige. die seinen Aufgabenkreis'  betrafen, 'in Körperschaften des öffentlichen Rechts' zusammenzufassen. Somit verlor Ley als Leiter der Deutschen Arbeitsfront, die an sich alle Gewerkschaften und Betriebe betraf, die Kompetenz dafür. (S.294)

10. Durch Krisen und Gefahren geht der Weg zu unserer Freiheit (1934-1936) 307 ff.

"Als zur Jahresmitte 1934 die von fortgesetzter revolutionärer Ungeduld und eigenem Geltungsbedürfnis getriebene SA-Führung unter Ernst Röhm dem auf Konsolidierung seiner Machtposition und Interessenausgleich mit der Reichswehrführung bedachten Hitler lästig wurde, ließ dieser im Einvernehmen mit HimmlerGoebbels und Göring unter dem erfundenen Vorwand eines angeblich bevorstehenden Röhm-Putsches mit Hilfe von SS-Getreuen Röhm und seine Entourage sowie weitere persönliche Gegner ermorden – sich selbst dabei als oberster Gerichtsherr und Wiederhersteller geordneter Verhältnisse inszenierend." (Wikipedia)
"Das Schlagwort von der 'zweiten Revolution' machte in den Sturmlokalen die Runde. Von ihr erhofften sich die um ihren Lohn Geprellten zudem, der S.A. wieder zu alter Bedeutung zu verhelfen. 'Was ich will, weiß Hitler genau,' schrieb Röhm, der Staatschef der S.A., 'ich habe es ihm oft genug gesagt. Kein zweiter Aufguss der alten, kaiserlichen Armee. Sind wir eine Revolution oder nicht? (…) Wenn wir es sind, so muss aus unserem Elan etwas Neues entstehen, wie die Massenheere der französischen Revolution.' Nicht einer solchen Miliz-Armee, wie sie Röhm vorschwebte, und der zudem die führende politische Rolle in Deutschland zukommen sollte, sondern Wehrmacht und allgemeiner Wehrpflicht gab Hitler jedoch im Februar 1934 mit Blick auf seine Eroberungspläne den Vorrang und vertiefte damit die Kluft zwischen sich und dem obersten S.A. Führer.
Bei dem bürgerlich-nationalen Regierungspartner nährte dies die Hoffnung, es werde vielleicht doch noch möglich sein, die totalitäre Parteidiktatur in eine gemäßigter autoritäre Herrschaft umzuwandeln. Als Ausgangspunkt für eine solche Entwicklung, die in die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie münden sollte, wurde die Entscheidung über die Nachfolge des greisen Reichspräsidenten angesehen. Am 21. Mai hatte Göbbels von Reichswehrminister von Blomberg erfahren, daß Papen solch 'ehrgeizige Pläne' verfolge. Er wolle an Hindenburgs Stelle treten, wenn der alte Herr gestorben sei. 'Kommt gar nicht in Frage. Im Gegenteil, da muss erst recht aufgeräumt werden', schrieb Göbbels dazu in sein Tagebuch.
Am 17. Juni hielt Vizekanzler von Papen vor dem Universitätsbund in Marburg eine vielbeachtete, von seinem Mitarbeiter Edgar Jung ausgearbeitete Rede, in der er schonungslose Kritik an der Herrschaft, der N.S.D.A.P. übte. Der seine Position bei weiten überschätzende Papen verurteilte darin das Gerede von der 'zweiten Revolution' ebenso wie den Kampf des Regimes gegen den angeblichen Intellektualismus. Er geißelte ganz offen den braunen Terror als Ausfluss eines bösen Gewissens und wandte sich scharf gegen die rigide Presselenkung des Propagandaministeriums. Gegen diesen gemünzt waren Bemerkungen wie die, 'große Männer, werden nicht durch Propaganda gemacht, sondern wachsen durch ihre Taten' [...]" (Reuth, S.311)


Montag, 3. November 2025

Gleichheit und Ungleichheit

 Erst jetzt, wo wir erkennen, dass die Gesellschaft der gleichberechtigten Staatsbürgerbürger (Zum Selbstverständnis gleichberechtigter Bürger) erst möglich wurde, als über es die Nutzung fossiler Energien möglich war, körperliche Schwerarbeit in großem Stile Maschinen zu übergeben (Industrielle Revolution), legt es sich nahe, über Gleichheit und Ungleichheit anders als in Kategorien des Klassenkampfes zu denken.

Es war die Ausbeutung fossiler Energien, die es möglich machte, die Ausbeutung der Massen zu reduzieren und die ökonomische Grundlage für Massenwohlstand und Massendemokratie zu legen. (und die natürliche Folge: der Klimawandel)

Landwirtschaft setzte in vielen Regionen der Welt eine gewaltige Plackerei der Vielen voraus, die die wirtschaftliche Grundlage für die Bevölkerungsexplosion schafften. Ob es vom Staat ausgebeutete Fellachen waren, die die Pyramiden erbauten, oder Sklaven, die das Königreich Benin so reich machte, dass Tausende von Bronzen die Geschichte eines Landes haltbar dokumentierten, große Kulturleistungen setzten große Ungleichheit (z.B. Kasten) voraus.

Der Kolonialismus mit dem Fernhandel, der mit Massengütern operierte, ermöglichte erst den Welthandel mit Menschen, der es möglich machte, die Massenware Mensch in großem Stil von Kontinent zu Kontinent zu transportieren.

Auf der Grundlage dieser Gedanken möchte ich Unfreiheit und Freiheit möglichst unideologisch betrachten.

Sklaven gab es schon früh als Ergebnis von Kriegen, wo es darum ging, Gefangene für die eigene Gesellschaft wirtschaftlich nutzbar zu machen. Die unterschiedliche Entwicklung Chinas, wo die arbeitende Bevölkerung trotz periodischer Bauernaufstände im Lande zu halten und einem großen Reich, später Staatswesen dienstbar zu halten, und Indiens, wo das Kastenwesen eine innere Apartheid aufrecht erhielt, unterscheidet sich da enorm von Afrika, dass einen gewaltigen Aderlass an Bevölkerung erlebte, und Europa, das mit Hilfe von Sklavenhandel und Kolonien das Kapital sammeln konnte, die Industrialisierung voranzutreiben und so Sklaverei durch Maschinenarbeit zu ersetzen.

Die Entwicklung der beiden Amerikas lief unterschiedlich. Während in Lateinamerika mit Hilfe der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung (die durch Sklavenarbeit und Krankheit dezimiert wurde) und herbeigeschaffter Afrikaner eine Gesellschaft von Großgrundbesitzern und einer Menge von Armen entstand, führte die Besiedlung Nordamerikas zur weitgehenden Enteignung der Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung und der Errichtung eines demokratischen Staatswesens von Einwanderern. Auch hier wurde die indigene Bevölkerung durch Afrikaner ergänzt, die großräumige Landwirtschaft rentabel machten.

Europa wurde es so ermöglicht, seinen Bevölkerungsüberschuss inklusive Abweichler nach Nordamerika auswandern zu lassen und dort eine weniger ungleiche Gesellschaft zu entwickeln, in der freilich die Sklavenhaltung im Süden das Gemeinwesen auseinanderzureißen drohte. Der Bürgerkrieg hat das dann verhindert. In Australien fand eine ähnliche Entwicklung wie in Nordamerika statt, nur dass die europäischen Siedler unfreiwillig in eine Strafkolonie umgesiedelt wurden und die Aborigines verdrängten.

In Afrika entwickelte sich die Sklaverei unterschiedlich. In den Anfängen (die freilich unzureichend schriftlich belegt sind) entstand die Schicht der Sklaven aus der Gruppe der Kriegsgefangenen der jeweiligen Streitigkeiten. Dann entwickelten die arabischen Staaten des Nordens ihre Art von großräumigeren Sklavenhandels (der bekanntlich auch eine nicht geringe Menge von Europäern einschloss, die aber relativ häufig freigekauft wurden oder auch fliehen konnten). Dieser Handel diente zur Versorgung der Reichen („Besserverdiener“) mit Hauspersonal und mit vorindustrieller Massenarbeit sowie mit Frauen zur Aufstockung des Harems und Militärsklaven (Mamluken, Janitscharen) zur Herrschaftssicherung.

Bemerkenswert ist dabei, dass die Kinder der Frauen (je mehr Frauen und Abkömmlinge, desto höher der gesellschaftliche Rang) der Besitzenden nicht Sklaven wurden, sondern in die Erbfolge einbezogen werden konnten. Die männlichen Sklaven, die sie bewachen sollten, wurden kastriert, was für viele tödlich endete. Kinder männlicher Sklaven wurden Sklaven.

Je nach Fähigkeiten wurden sie aber auch – wie in der Antike - als Dichter, Handwerker, Schriftsteller, Musiker und Handelsgehilfen eingesetzt und hatten dann prinzipiell auch die Möglichkeit, zu Geld zu kommen und sich freizukaufen.

Im transatlantischen Handel gab es zweimal so viele männliche wie weibliches Sklaven. Sie waren gefragter, weil sie aufgrund ihrer Körperkraft als landwirtschaftliche Arbeitskräfte produkti/ver waren, und wurden vor allem auf Plantagen in der Karibik sowie in Nord- und Südamerika eingesetzt.“ (Zeinab Badawi: Eine afrikanische Geschichte Afrikas, S.S.229f)


Sonntag, 2. November 2025

Sklaverei: erweiterte Definition

 Sklaverei ist ein soziales System der Unfreiheit und Ungleichheit, in dem Menschen als Eigentum anderer behandelt werden. Bei der Sklaverei im engen Sinne der Geschichtsschreibung war das Recht, Sklaven zu erwerben, zu verkaufen, zu mieten, zu vermieten, zu verschenken und zu vererben, gesetzlich verankert. Die Sklavengesetze regelten die privat- und strafrechtlichen Gesichtspunkte der Sklavenhaltung und des Sklavenhandels; darüber hinaus bestimmten sie auch, welche Rechte den Sklaven zugestanden wurden.

In vielen sklavenhaltenden Staatswesen und Gesellschaften behielten Sklaven eine gewisse Rechtsfähigkeit und konnten zum Beispiel die Gerichte anrufen oder Eigentum mit Einschränkungen erwirtschaften, das es ihnen in manchen Gesellschaften und Ländern erlaubte, durch Selbstkauf die Freiheit zu erlangen. In manchen Staatswesen war Sklaverei erblich, das heißt die Nachkommen von Sklaven waren ebenfalls unfrei.

Im weiteren Sinne zählen zur Sklaverei auch Freiheitsberaubung und Nötigung von Menschen ohne gesetzliche Grundlage, beziehungsweise als Verstoß gegen die geltenden Gesetze und die Menschenwürde sowie Ausbeutung illegal Aufhältiger. Die Grenzen zwischen Sklaverei und „sklavereiähnlichen“ Erscheinungen wie etwa Zwangsarbeit (in Industrie, Bergbau, Plantagen etc.) oder Zwangsprostitution sind fließend. (Wikipedia)

Ergänzende Stichworte: Geschichte der SklavereiSklaverei in der NeuzeitSklavenhandelostafrikanischer Sklavenhandel, mediterraner Sklavenhandel und  innerafrikanischer Sklavenhandel

"Der heilige Patrick musste in Irland nach seiner Entführung sechs Jahre Sklave sein. Die Sklavin (cumal) zählte in der inselkeltischen Rechtsprechung als Währungseinheit – ein cumal entsprach dem Wert von zehn Kühen.[7](Wikipedia)

Zu Sklaverei im jüdischen Raum: 3. Buch Mose 25:

"39 Wenn ein Bruder bei dir verarmt und sich dir verkauft, darfst du ihm keine Sklavenarbeit auferlegen; 40 er soll dir wie ein Lohnarbeiter oder ein Beisasse gelten und bei dir bis zum Jubeljahr arbeiten. 41 Dann soll er von dir frei weggehen, er und seine Kinder, und soll zu seiner Sippe, zum Besitz seiner Väter zurückkehren. 42 Denn sie sind meine Knechte; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt; sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird. 43 Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen. Fürchte deinen Gott! 44 Die Sklaven und Sklavinnen, die euch gehören sollen, kauft von den Völkern, die rings um euch wohnen; von ihnen könnt ihr Sklaven und Sklavinnen erwerben. 45 Auch von den Kindern der Beisassen, die bei euch leben, aus ihren Sippen, die mit euch leben, von den Kindern, die sie in eurem Land gezeugt haben, könnt ihr Sklaven erwerben. Sie sollen euer Besitz sein 46 und ihr dürft sie euren Kindern nach euch vererben, damit diese sie als Besitz für immer haben; ihr sollt sie als Sklaven haben. Aber was eure Brüder, die Israeliten, angeht, so soll keiner über den andern mit Gewalt herrschen. 47 Wenn ein Fremder oder ein Beisasse bei dir zu Vermögen kommt, aber dein Bruder neben ihm verarmt und sich ihm oder einem Nachkommen aus der Familie eines Fremden verkauft, 48 dann soll es, wenn er sich verkauft hat, für ihn ein Loskaufrecht geben: Einer seiner Brüder soll ihn auslösen. 49 Auslösen sollen ihn sein Onkel, der Sohn seines Onkels oder sonst ein Verwandter aus seiner Sippe. Falls seine eigenen Mittel ausreichen, kann er sich selbst loskaufen. 50 Er soll mit dem, der ihn gekauft hat, die Jahre zwischen dem Verkaufs- und dem Jubeljahr berechnen; die Summe des Verkaufspreises soll auf die Zahl der Jahre verteilt werden, wobei die verbrachte Zeit wie die eines Lohnarbeiters gilt. 51 Wenn noch viele Jahre abzudienen sind, soll er die ihnen entsprechende Summe als seinen Lösepreis bezahlen. 52 Wenn nur noch wenige Jahre bis zum Jubeljahr übrig sind, soll er es ihm berechnen; den Jahren entsprechend soll er seinen Lösepreis bezahlen. 53 Er gelte wie ein Lohnarbeiter Jahr um Jahr bei seinem Herrn; dieser soll nicht vor deinen Augen mit Gewalt über ihn herrschen. 54 Wenn er in der Zwischenzeit nicht losgekauft wird, soll er im Jubeljahr freigelassen werden, er und seine Kinder. 55 Denn mir gehören die Israeliten als Knechte, meine Knechte sind sie; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, ich bin der HERR, euer Gott. 

Eine alternative Geschichte der Ukraine

 2023 habe ich mich etwas ausführlicher mit  Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart  besc...