"[...] Frei: Er glaubte, dass sie [die NSDAP] sich wieder niederringen
lässt, und wollte sie nicht durch zu viel Aufmerksamkeit noch größer machen. Diese Haltung beruhte auf seiner lange Zeit unangefochtenen Amtsstellung. Aber die Nationalsozialisten verstanden
es, ihn als korrupt und elitär in Verruf zu bringen.
Wohl auch deshalb hat er dem neuen Reichskanzler Hitler vor der Märzwahl 1933 demonstrativ die Begrüßung in Köln verweigert. Das war
ein starkes Zeichen.
ZEIT: Adenauer galt den Nationalsozialisten als
Repräsentant des verhassten Weimarer Systems.
Zugleich hatte er überaus autoritäre Züge. Wie
stand er zur parlamentarischen Demokratie?
Frei: Adenauer war immer ein Mann der Exekutive,
nicht des Parlaments. Deswegen hatte er auch mit
den Präsidialregimen in der Spätphase Weimars
kein großes Problem. Er wollte Taten sehen, und er
hat viel geleistet. Auf den Inneren Grüngürtel in
Köln war er bis zum Ende seines Lebens stolz.
ZEIT: Geboren im Januar 1876, vor 150 Jahren,
wurde er im Kaiserreich politisch sozialisiert.
Frei: Ja, aber es fiel ihm 1918 überhaupt nicht
schwer, sich auf die neue Ordnung einzustellen.
Er hegte keine antidemokratischen Affekte. Er
»machte« einfach, ließ sich als junger, erfolgreicher
und extrem gut bezahlter Oberbürgermeister auf
die Republik ein, wurde Präsident des Preußischen
Staatsrats. Adenauer war ein überzeugter bürgerlichkonservativer Repräsentant Weimars.
ZEIT: Sie beschreiben ihn als ausgeprägten Besitzbürger. Es fällt sogar das Wort Geldgier.
Frei: Er war ein Selfmademan. Er hielt es für selbstverständlich, als Oberbürgermeister im modernsten Mercedes gefahren zu werden und ein Haus in
bester Kölner Villenlage zu besitzen. Auch während
der NS-Zeit fand Adenauer Halt im Materiellen.
Das Haus in Rhöndorf, das er 1937 bauen ließ,
war seine mentale Burg. Es gab ihm Sicherheit
nach einer Zeit, in der ihn sein Lebensmut ziemlich
verlassen hatte. In früheren Biografien wurde das
kaum thematisiert.
ZEIT: Er hatte Suizidgedanken?
Frei: Ja, er hatte 1933 Suizidgedanken. Das verbietet sich natürlich für einen Katholiken, und es
verbietet sich für einen Familienvater. »Wenn nicht
meine Familie und meine religiösen Grundsätze
wären«, schrieb er seinem Freund Heineman, »hätte
ich schon lange meinem Leben ein Ende gemacht.«
ZEIT: Aus Angst? Hoffnungslosigkeit? Aus einem
Gefühl der Demütigung heraus?
Frei: Die Niedertracht der Nazis und seine Entlassung als Oberbürgermeister hatten ihn zutiefst
getroffen. Er stritt nach 1933 noch jahrelang mit
den NS-Oberen um seine Beamtenversorgung.
Und er entwickelte einen fundamentalen Zweifel
am politischen Verstand, ja der moralischen Zurechnungsfähigkeit der Deutschen. Auch von seinem eigenen politischen Milieu sah sich Adenauer
fallen gelassen. Nicht zufällig setzte er sich nach
1945 nicht für die Wiederbelebung der katholischen Zentrumspartei ein, sondern für die Gründung der überkonfessionellen CDU.
ZEIT: Wobei das katholische Milieu 1933 zunächst viel resistenter gewesen war als etwa das
protestantische.
Frei: Natürlich. Auch Adenauer war durch seinen
Katholizismus geradezu antinationalsozialistisch
imprägniert. Überdies pflegte er enge freundschaftliche Kontakte ins jüdische Bürgertum seiner Heimatstadt.
Als junger Oberbürgermeister hatte er in
dem Bankier Louis Hagen einen wichtigen Mentor.
ZEIT: Warum ist er nicht ins Exil gegangen?
Frei: Er glaubte wohl zu wissen, dass die Naziherrschaft nicht tausend Jahre dauern wird, und er
wollte sie mit etwas Vorsicht im Reich überstehen. [...]
ZEIT: Adenauer wurde angetragen, sich dem Widerstand anzuschließen. Warum lehnte er ab?
Frei: Er wollte sich und seine Familie nicht gefährden. Und er hatte politische Bedenken. Schon 1943
soll er im privaten Kreis gesagt haben, dass die
Kriegsniederlage, anders als 1918, eine totale sein
müsse – sonst gebe es eine neue Dolchstoßlegende.
Adenauer war überzeugt, dass Deutschland nur von
außen befreit werden könne. Nach dem Attentat
vom 20. Juli 1944 stand die Gestapo allerdings auch
in Rhöndorf vor der Tür. Vier Wochen später
wurde Adenauer festgenommen, konnte aber mithilfe eines Kölner Kommunisten aus der Lagerhaft
entkommen und tauchte unter. Die Gestapo verhaftete daraufhin seine Frau und erpresste sie mit
der Drohung, auch die Töchter einzusperren.
Gussie Adenauer verriet das Versteck ihres Mannes
und versuchte danach aus Scham, sich das Leben
zu nehmen. Beide kamen wieder frei, aber diese
Wochen hinterließen Spuren in der Familie.
ZEIT: Wie stand Adenauer nach 1945 zum 20.Juli?
Frei: So wie die meisten Führungsfiguren der
frühen Bundesrepublik: Bis zum zehnten Jahrestag
1954 blieb er zurückhaltend. Zu dominant war
immer noch die Stimmung gegen die »Eidbrecher«
aus der Wehrmacht, und der Kanzler wollte keine
Wählerstimmen verlieren.
ZEIT: Gab es eigentlich nur den Pragmatiker
Adenauer, der den 20. Juli beschwieg in machttaktischer Rücksichtnahme? Oder war da noch ein
anderer? [...]
Frei: [...] Was den Widerstand betrifft, war er
ein zu großer Realist und Pessimist, als dass er eine
Chance gesehen hätte. Und seine Skrupellosigkeit
als Wahlkämpfer ist legendär. Wenn es seiner Sache
diente, war Adenauer fast jedes Mittel recht. Er
wusste: Ein ganzes Volk hat versagt, und wenn ich
es für meine politischen Ziele gewinnen will, kann
ich ihm dieses Versagen nicht ständig vorhalten.
Mit der ihm eigenen Diskretion des Unkonkreten
bemäntelte er daher Dinge, von denen in Deutschland fast niemand etwas wissen, geschweige denn
gewusst haben wollte. Selbst in den Verhandlungen
über die Entschädigungszahlungen an Israel sprach
er nicht von Verbrechen, sondern nur vage von dem
»Unrecht«, das den Juden geschehen sei.
ZEIT: Was hielt er von der Idee der Alliierten, die
Deutschen umzuerziehen?
Frei: In vertraulichen Korrespondenzen schrieb er
1945/46 ganz unverblümt, dass die von den Nazis
indoktrinierte junge Generation umerzogen werden
müsse. Die mittlere, die zu verantworten hatte,
was passiert war, sei ebenfalls nicht zu gebrauchen.
Übrig blieben nur die Weimarer Demokraten seiner
eigenen Generation – also allen voran er selbst. Sein
Führungsanspruch war insofern auch Folge seines
schon erwähnten Misstrauens gegenüber den
Deutschen. Sein unausgesprochenes Prinzip war:
Ich weiß, was richtig ist, und setze das durch. Entsprechend instrumentell bediente er sich seines
Personals: »Man schüttet kein dreckiges Wasser aus,
wenn man kein reines hat«, lautete sein Credo im
Umgang mit den belasteten Funktionseliten.
ZEIT: Bereitete es ihm kein Unbehagen, Leuten,
vor denen er sich zwölf Jahre lang fürchten musste,
wieder den Weg in Ämter und Positionen zu ebnen?
Frei: Adenauer wusste, wie opportunistisch die
Menschen sind. Unter den neuen, von ihm gesetzten Rahmenbedingungen würden sie schon
funktionieren. Diese Denkweise zeigte sich auch
in der berüchtigten Causa Globke.
ZEIT: Hans Globke, Kommentator der Nürnberger
Rassegesetze, war Staatssekretär im Kanzleramt.
Frei: Wofür Adenauer immer wieder heftige Kritik
aus dem In- und Ausland einstecken musste. Aber
er hielt bis zum Schluss an seinem Eckermann fest.
Globke war dem Kanzler einfach zu nützlich. Und
das, obwohl der von sich selbst sagte: Ich hätte das nicht gekonnt, ich hätte 1933 nicht im Reichsinnenministerium bleiben können.
ZEIT: Hätte es fürs Kanzleramt nicht etwas »saubereres Wasser« gegeben als ausgerechnet Globke?
Frei: Da kam, je länger, desto mehr, wohl auch
Sturheit ins Spiel, zumal angesichts des Drucks
aus Ost-Berlin: Je maßloser die DDR-Propaganda
gegen das »klerikalfaschistische Adenauer-Regime«
hetzte, desto entschiedener hielt der Kanzler im
Zeichen des Antikommunismus dagegen. [...]
Frei: Entscheidend war für ihn der Erfolg, den seine
Politik des kalkulierten Beschweigens hatte. Die
Bundesrepublik entwickelte sich zu einer funktionierenden Demokratie, und Leute, die eben noch
Hitler zugejubelt hatten, jubelten nun ihm zu und
wählten demokratische Parteien. Der Preis dafür
war, Schluss zu machen mit der »Nazi-Riecherei«.
Adenauer handelte in dem Bewusstsein, Deutschland dieses Mal auf den richtigen Weg bringen
zu können. Er formulierte nicht in Kategorien des
persönlichen Stolzes, aber nach seiner ersten USA-Reise sagte er 1953, er sei stolz darauf, dass der
»deutsche Name« wieder etwas gelte in der Welt.
Daraus sprach kein primitiver Nationalismus, sondern Genugtuung über eine Leistung, die in seinen
Augen auch die NS-Jahre ein Stück weit aufwog. [...]
Irgendwann verstand dieser dann doch
sehr alte Mann die Welt nicht mehr. Aber hinter
seinem autoritären Führungsstil steckte auch ein
Charakterzug: Adenauer, der Patriarch. Im Greisenalter trat das noch stärker hervor. Auch seine
gegen die Sozialdemokraten gerichtete antikommunistische Rhetorik verhärtete sich, ganz zu
schweigen von der illegalen Bespitzelung der SPD
durch den Bundesnachrichtendienst, die er billigte
und von der er profitierte.
ZEIT: Adenauer hat die öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur vermieden. Eines aber
setzte er 1952/53 gegen die »Volksstimmung«
durch: das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen mit Israel. Was waren seine Motive?
Frei: Zum einen war er überzeugt, dass das begangene »Unrecht« nach Sühne verlangte. Zum anderen war ihm klar, dass die Bundesrepublik von dem
Abkommen profitieren würde auf ihrem Weg,
wieder ein angesehenes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft zu werden.
ZEIT: Etwas »wiedergutgemacht« hat das Abkommen also vor allem für Deutschland?
Frei: Nicht »vor allem«. Der junge israelische Staat
profitierte erheblich von den Zahlungen. Adenauer
wusste natürlich, dass das nicht populär war, weshalb im Stillen verhandelt wurde, auch mit Rücksicht auf die israelische Seite, denn in Israel war das
Abkommen ebenfalls umstritten. Zugleich sprach
er gelegentlich etwas drohend von der »Macht der
Juden«, gerade in Amerika. Womöglich hatte er den
berühmten Satz des Hohen Kommissars John
McCloy im Ohr, das Verhältnis der Deutschen zu
den Juden werde sich als »Prüfstein« für die Entwicklung des »neuen Deutschlands« erweisen.
Nicht zuletzt hatte das Thema für ihn eine persönliche Dimension. Besonders deutlich zeigte sich das
nach den Hakenkreuzschmierereien an der Kölner
Synagoge 1959, die eine internationale Welle der
Empörung auslösten. Adenauer hielt damals eine
Ansprache, in der er, ganz untypisch, von sich selbst
erzählte: In seiner Bedrängnis 1933 seien es zwei
Juden gewesen, die ihm als Erste Hilfe anboten.
ZEIT: Hätte es Alternativen gegeben zu seiner Vergangenheitspolitik, vor allem zum Wiedereinsetzen der Tätergeneration?
Frei: Grundsätzlich führte nach dem Ende der
Entnazifizierung an der Reintegration der Funktionseliten kein Weg vorbei. Aber man hätte an
vielen Stellen strenger, genauer und kritischer sein
können, etwa bei den Polizeibehörden.
ZEIT: War es nicht auch eine riskante Wette, die
der misstrauische Adenauer da eingegangen ist?
Frei: Ja, das war mit einem gewissen Risiko behaftet, aber er sah sehr schnell, dass er auf dem richtigen Weg war. Es ist atemberaubend, wie rasant und
unbeirrbar Adenauer die Weichen gestellt und seine
Politik der Westbindung auch gegen Widerstände
in der eigenen Partei betrieben hat. Das war revolutionär und bleibt sein größtes Verdienst.
[...]"
Norbert Frei