Montag, 30. Januar 2023

Stalingrad

 Sönke Neitzel über Stalingrad: "Der Tod war überall

 Der Militärhistoriker Sönke Neitzel über die Schlacht von Stalingrad, Mythen um die Wehrmacht und die Frage, welche Rolle der Zweite Weltkrieg für Russlands Überfall auf die Ukraine spielt

[...] ZEIT Geschichte: Stalingrad war weder die opferreichste noch die entscheidende Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Warum hat sie trotzdem einen so herausgehobenen Platz in der Erinnerung?

Neitzel: An der Ostfront fielen mehr als 2,7 Millionen deutsche Soldaten, der Tod war überall. Aber den Hunger und das Ausharren in der Eiswüste, das Verrecken in den Ruinen, das gab es in dieser Dimension nirgendwo anders. Und dann gehen – nach offiziellen Zahlen, wir wissen es nicht genau – knapp hunderttausend Mann in Gefangenschaft, von denen die allermeisten sterben, weil sie schon unterernährt sind. Beim Zusammenbruch der Ostfront im Sommer 1944 starben noch viel mehr Soldaten, aber sie kamen ums Leben wie Millionen andere in diesem Krieg, sie sind nicht in der Kälte verhungert, es gab keinen Kannibalismus. In Stalingrad verdichtet sich die Kriegserfahrung. Und das an einem besonderen Ort. An den Kessel von Tscherkassy im Februar 1944 erinnert sich niemand, aber Stalingrad war symbolisch extrem aufgeladen.

ZEIT Geschichte: Wie viele Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten sind in Stalingrad umgekommen – und wie hoch waren die sowjetischen Verluste?

Neitzel: Die Rote Armee verlor bei der Verteidigung und der Rückeroberung der Stadt von Juli 1942 bis Februar 1943 etwa 400.000 Soldaten. Bei der Wehrmacht und ihren rumänischen Verbündeten müssen wir von etwa 270.000 Opfern ausgehen, die während der Kämpfe in und um Stalingrad und in der Gefangenschaft umkamen. [...] 

ZEIT Geschichte: Was war Stalingrad aus sowjetischer Sicht?

Neitzel: Auch für die Sowjetunion war Stalingrad ein symbolischer Ort, hier sollte der Siegeszug der Wehrmacht um jeden Preis gestoppt werden. Mit seinem Haltebefehl "Keinen Schritt zurück" hat Stalin den deutschen Vormarsch im Blut der eigenen Menschen ertränkt: Die sowjetischen Verluste liegen ja deutlich höher als die der Deutschen. Dass die Rote Armee eine Gegenoffensive startet und es zum ersten Mal schafft, eine ganze deutsche Armee einzukesseln und deren Oberbefehlshaber gefangen zu nehmen, also die Wehrmacht mit deren eigenen Waffen schlägt, war für die Sowjets ein Wendepunkt, zumindest in psychologischer Hinsicht.

ZEIT Geschichte: Wann hat die Wehrmacht den Krieg tatsächlich verloren?

Neitzel: Im Spätsommer 1941. In vielen Schulbüchern und Fernsehdokumentationen heißt es immer noch, Stalingrad sei der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs gewesen, das ist Quatsch. Psychologisch, in der internationalen Presse, auch in der Wirkung auf die Neutralen war Stalingrad ein Wendepunkt, aber tatsächlich hat sich das Blatt schon in dem Moment gewendet, in dem der deutsche Plan für den Angriff auf die Sowjetunion gescheitert ist. Hitler und die Generalität wollten die Sowjetunion in einem kurzen Feldzug niederwerfen, um dann den Rücken frei zu haben für den Krieg gegen die Westmächte. Bereits im August 1941 war klar, dass das nicht funktioniert; die Völker der Sowjetunion kämpften unter hohen Verlusten tapfer für ihr Land. Als Hitler im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärte, waren die Deutschen im Grunde schon seit etlichen Monaten am Ende. Auf einen Misserfolg in der Sowjetunion waren sie nicht vorbereitet.

ZEIT Geschichte: Im August 1941 waren die meisten Deutschen noch siegestrunken. Warum wurde die Kriegswende nicht als solche wahrgenommen?

Neitzel: Weil man meistens auf die großen Schlachten schaut: Königgrätz, Sedan, Verdun, in diese Reihe gehört auch Stalingrad. Entschieden werden Kriege aber oft durch die Rüstungsproduktion und an der Frage, wie viele Menschen zur Verfügung stehen oder wie der Nachschub organisiert wird. Die Deutschen wussten, dass sie in diesen Fragen am kürzeren Hebel sitzen, deswegen haben sie auf den Faktor Geschwindigkeit gesetzt, auf die Blitzkriege. Und diese Strategie scheiterte eben im Spätsommer 1941, auch wenn dies für die Zeitgenossen nicht deutlich wurde, weil Produktions- und Verlustzahlen ja geheim waren und die Niederlage vor Moskau im Winter 1941 verschleiert wurde. Die Wehrmacht verlor bis März 1942 eine Million Mann, aber gleichzeitig war man eben weit in die Sowjetunion vorgedrungen, es gab die großen Kesselschlachten, die Siegesmeldungen und die Hoffnung.[...] 

ZEIT Geschichte: Das heißt, die 6. Armee war noch radikaler in der Umsetzung der Vernichtungsdoktrin als andere Armeen?

Neitzel: Ja, wobei die 6. Armee ein riesiger Verband war, in dem 1941 zum Teil andere Leute kämpften als 1942 in Stalingrad, es gab ja hohe Verluste. Und nicht jeder Soldat hat eine Blutspur durch die Ukraine gezogen. Aber die Oberbefehlshaber setzten ihre Akzente. So wurde etwa der Befehl zur Ermordung der Kommissare überall umgesetzt, aber mit unterschiedlicher Radikalität. Und die 6. Armee hatte einen Befehlshaber, der extrem radikal war und sich vollauf mit dem Vernichtungskrieg identifizierte.

ZEIT Geschichte: Auch das bekannte Massaker von Babyn Jar fiel organisatorisch in die Zuständigkeit der 6. Armee.

Neitzel: Bei diesem größten Einzelmassaker der Schoah in der Sowjetunion gehörten die Mordschützen den Einsatzgruppen der SS an, aber die Wehrmacht hätte ihnen den Zutritt zum Operationsgebiet verwehren können. Es gab ein Abkommen, nach dem die Einsatzgruppen nur im rückwärtigen Raum operieren sollten. Die Wehrmacht ließ sie trotzdem in den Frontbereich. Es kam oft vor, dass Städte erobert wurden, und einen Tag später rückten die Einsatzgruppen an. So war es auch in Kiew und Babyn Jar.

ZEIT Geschichte: Die 6. Armee unterstützte die Mordeinheiten hier auch logistisch.

 Neitzel: Es gab eine Komplizenschaft. Die Propagandakompanien druckten die Aushänge, die verkündeten, dass sich die Juden zusammenfinden sollten. Und es war eine Pioniereinheit der Wehrmacht, die nach dem Massaker die Schlucht sprengte, um die Leichenberge zu verscharren. Für Generale wie Reichenau – aber letztlich gilt das für alle anderen auch – war diese Arbeitsteilung von Vorteil: In der Vorstellung der Militärs erledigten die SS-Männer mit dem Judenmord die "Drecksarbeit" und sicherten der Wehrmacht damit den Rückraum. Wenn dabei Unschuldige getötet wurden, fiel das nicht sonderlich ins Gewicht.[...] 

ZEIT Geschichte: Die NS-Propaganda und später die memoirenschreibenden Generale verwandelten Täter in Opfer: Die deutschen Angreifer wurden zu heldenhaften Verteidigern der Stadt erklärt. Sind wir von diesem Opfermythos heute geheilt?

Neitzel: In der Bonner Republik war das Bild des Opfergangs noch sehr präsent, geprägt durch Autoren wie Paul Carell. Selbst der Stalingrad-Film von Joseph Vilsmaier aus dem Jahr 1993 bedient noch viele der alten Klischees. Heute ist das anders. Über viele Jahrzehnte waren Stalingrad und Auschwitz die Referenzpunkte der Deutschen für den Zweiten Weltkrieg – geblieben ist nur noch Auschwitz als Synonym für die Verbrechen. Stalingrad ist von der Bildfläche verschwunden. Ich glaube, die Politik sucht insgesamt noch nach einer Haltung zu den 5,4 Millionen toten Wehrmachtsoldaten aus dem Weltkrieg.

ZEIT Geschichte: Auch um die sowjetischen Soldaten ranken sich Mythen. Entweder treibt sie Zwang und Terror an die Front, wie der britische Historiker Antony Beevor betont, oder sie kämpfen "heldenhaft", wie es beim britischen Fachkollegen Iain MacGregor heißt. Liegt die Wahrheit wie immer dazwischen?

Neitzel: Deshalb nerven wir Historiker so: Wir versuchen abzuwägen und zu sagen, dass es komplizierter ist. Iain MacGregor und Antony Beevor wollen ihre Bücher verkaufen und sind erfolgreich dabei. Grautöne stören in dieser Hinsicht eher.[...]

ZEIT Geschichte: Wann hat die Wehrmacht den Zenit ihrer Kampfkraft überschritten?

Neitzel: Wir haben ein viel zu positives Bild von der Kampfkraft der Wehrmacht. Dass die Wehrmacht kriminell war, haben mittlerweile hoffentlich alle verstanden, aber dass die deutschen in militärischer Hinsicht die besten Soldaten der Welt waren, dieser Mythos aus den Landser-Heften hat sich lange gehalten. Die Wehrmacht war die einzige Armee, die den Bewegungskrieg beherrschte, aber sie hat es nicht geschafft, sich taktisch und technisch auf die zweite Kriegshälfte einzustellen, in der es nicht mehr um Geschwindigkeit ging, sondern um Feuerkraft. Das wurde nach Stalingrad offenkundig und 1943 auch in den Kämpfen gegen die US-Armee in Italien. Die Wehrmacht war weniger lernfähig als die Kaiserliche Armee des Ersten Weltkriegs, die sich eher anpassen konnte. Unser Bild geprägt haben die großen Siege bis 1941, dagegen sind die hohen Verluste des letzten Kriegsjahres aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden.

ZEIT Geschichte: Waren die Militärhistoriker ganz unschuldig daran, dass der Mythos der "besten Soldaten" so mächtig wurde?

Neitzel: Die militärhistorische Forschung hat sich zu wenig um die handwerkliche Seite des Krieges gekümmert und den Mythos der taktischen Exzellenz zu wenig infrage gestellt, deshalb konnte er so lange blühen. Solche Mythen haben aber auch ihre Funktion, sie stiften Sinn. In der Nachkriegszeit war das Narrativ des "besten Soldaten" das einzig Positive und Verbindende, auf das man sich angesichts all der Toten und der Verbrechen berufen konnte. Noch Ende der Sechzigerjahre hatten zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten eine Vergangenheit in der Wehrmacht, überall gab es Veteranen. Man konnte sich sagen: Es war schlimm, aber wir haben viel geleistet. Und die Alliierten stießen ins selbe Horn, die Briten waren ja ganz besessen von General Rommel. Je stärker die Wehrmacht erschien, desto größer wurde der eigene Erfolg. Das Narrativ konnte sich so lange halten, weil es von vielen Seiten bedient wurde.[..]

ZEIT Geschichte: Die Offensive der Wehrmacht im Sommer 1942 begann in Städten wie Charkow und Isjum, die heute wieder an der Front liegen. Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg gegenwärtig im Krieg Russlands gegen die Ukraine?

Neitzel: Als Militärhistoriker zucke ich zusammen, wenn ich von Orten wie Saporischschja höre, wo es schon vor dem Zweiten Weltkrieg einen großen Staudamm gab, oder Kriwoi Rog, Charkow und Isjum, wo die Rote Armee und die Wehrmacht 1941/42 und im Herbst 1943 wie Rammböcke aufeinanderprallten. Allen Seiten dient der Zweite Weltkrieg heute als Rechtfertigung. Putin will ja so eine Art Großen Vaterländischen Krieg gegen den Westen führen und gegen angebliche ukrainische Faschisten – das bezieht sich auf die ukrainischen Nationalisten, die im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen paktiert haben. Der ukrainische Ex-Botschafter Andrij Melnyk hingegen hat immer an die Verbrechen der Deutschen an den Ukrainern erinnert, um die historische Verpflichtung herauszustellen, der Ukraine zu helfen. Bei Frank-Walter Steinmeier ging es auch um Schuldbewältigung, aber vor allem gegenüber Russland, die Ukraine kam in seinen Reden lange Zeit nicht vor. Und denken Sie an Annalena Baerbock, die noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz kurz vor Beginn des Krieges gesagt hat, aus historischen Gründen könnten wir keine Waffen liefern.

ZEIT Geschichte: Liegt es an den Weltkriegsbildern von deutschen Panzerarmeen in der Donsteppe, dass Deutschland sich so schwer damit getan hat, Panzer zu liefern?

Neitzel: Ich halte das für vorgeschoben. Einige Sozialdemokraten vom linken Flügel der Partei wollen prinzipiell keine Waffen liefern, weil sie denken, dadurch könnte der Krieg eskalieren. Ich habe mal die provokante Frage gestellt, was eigentlich wäre, wenn Putin Gotland angreift: Dann könnte man keine "historischen Gründe" anführen, denn Schweden war nicht von den Deutschen besetzt. Und trotzdem würden wahrscheinlich keine schweren Waffen geliefert. Meines Erachtens hat Deutschland sich in den zurückliegenden zwei, drei Jahrzehnten zu sehr hinter der Vergangenheit versteckt, hat sich bei Auslandseinsätzen einen schlanken Fuß gemacht und damit auch die Nato-Partner genervt, die sich längst mehr militärisches Engagement von uns wünschen.

ZEIT Geschichte: Sie sind Mitglied der Deutsch-Russischen Geschichtskommission, eines Verbunds von Historikerinnen und Historikern aus beiden Ländern. Gibt es gerade viel zu besprechen?

Neitzel: Nein, die Arbeit der Kommission ruht. Die Bundesregierung hat beschlossen, die institutionellen Kulturbeziehungen auf Eis zu legen. Ich begrüße das, denn die Kommission – einst gegründet von Helmut Kohl und Boris Jelzin – ist auf russischer Seite hoch angesiedelt, der Vorsitzende hat direkten Zugang zu Putin. Ich bin seit 2016 dabei, mein Eindruck ist: Bilateral kann man mit den Kollegen aus Russland viel besser reden als auf offizieller Ebene, denn die russische Geschichtspolitik ist sehr viel strikter geworden. In der Kommission hat nach meinem Eindruck die russische Seite versucht, die Geschichte immer mehr für aktuelle politische Zwecke zu instrumentalisieren. Auch deshalb ist es gut, dass die Arbeit ruht."

Montag, 12. Dezember 2022

Ansprache eines 12jährigen Mädchens in Rio de Janeiro 1992

 https://www.youtube.com/watch?v=oJJGuIZVfLM

Severn Suzuki, damals 12 Jahre alt

Weshalb war es möglich, dass die Worte des „Mädchen(s), das die Welt zum Schweigen brachte“ so rasch verhallten ?

Weshalb musste es 26 Jahre dauern, bis das Anliegen der Kinder wirklich weltweit wahrgenommen wurde?

Es gab ein Interesse von Mächtigen, dass diese Worte und Argumente nicht bekannt wurden.

Das Klima-Buch von Greta Thunberg, die über hundert Experten dafür gewonnen hat, die Situation zu erklären und Wege zur Verhinderung der Katastrophe aufzuzeigen, ist bisher noch kein Bestseller. Wer hat wohl ein Interesse daran, dass es keiner wird?

Wir dürfen nicht vergessen, dass schon vor 30 Jahren Kinder ausgesprochen haben, dass die (mächtigsten) Erwachsenen ohne Not ihre Zukunft zerstörten.

https://www.youtube.com/watch?v=FjuY0iabhV8

Vor 30 Jahren setzten viele ihre Hoffnung auf die junge Generation, zu der Severn Suzuki gehörte, die mit 9 Jahren ihre erste Kinderorganisation gründete und bis heute kämpft. 

"Im Alter von 9 Jahren gründete Cullis-Suzuki an der Lord-Tennyson-Grundschule in ihrer Geburtsstadt Vancouver den Umwelt-Club Environmental Children’s Organization (ECO). Die Mitglieder beschäftigten sich gemeinsam mit Ursachen und Lösungen für verschiedene Umweltprobleme.[9]

1992 sammelten die zwölfjährige Severn und die Mitglieder des Umwelt-Clubs ECO Spenden, um an der ersten Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro teilzunehmen. Zusammen mit Michelle Quigg, Vanessa Suttie und Morgan Geisler reiste Cullis-Suzuki schließlich zur Konferenz nach Rio de Janeiro und hielt vor den Delegierten der Vereinten Nationen eine eindringliche Rede über die Grenzen des Wachstums und der Ressourcenausbeutung des Planeten Erde aus der Sicht heutiger und zukünftiger Generationen. Mit dieser sechsminütigen Rede[5] wurde sie bekannt als „das Mädchen, das die Welt zum Schweigen brachte“.[10][11]

1993 wurde Cullis-Suzukis erstes Buch mit dem Originaltitel Tell the World veröffentlicht, ein 32-seitiger Umweltratgeber für Familien." (Wikipedia)

sieh auch:

https://www.youtube.com/watch?v=oJJGuIZVfLM ab Minute 8:30

Donnerstag, 8. Dezember 2022

Massaker von Wola

 "Ein tragisches Schicksal traf die Bewohner Wolas nach dem Ausbruch des Warschauer Aufstandes am 1. August 1944. Die vom Westen einrückenden deutschen Einheiten kämpften sich hier ihren Weg in die Stadt, um die Aufständischen niederzuschlagen, und brachten dabei über 150.000 Zivilpersonen um. Mehrere Tausend Einwohner und hier arbeitende Menschen wurden in den ersten Augusttagen im Massaker von Wola erschossen. Tausende wurden in Konzentrationslager deportiert. Daran erinnern viele Gedenktafeln. Im ehemaligen Elektrizitätswerk der Straßenbahn befindet sich heute das Museum des Warschauer Aufstandes an der Ulica Przyokopowa/Ecke Grzybowska."  (Wola, Stadtbezirk von Warschau)

Freitag, 4. November 2022

Gedächtnisinstitutionen

"Gedächtnisinstitution (auch Gedächtnisorganisation) ist ein Sammelbegriff für Institutionen, die Wissen bewahren und vermitteln. Dazu zählen insbesondere BibliothekenMuseen und Archive.

Der Begriff wurde im Rahmen der Langzeitarchivierung und Zugänglichmachung insbesondere digitaler Informationen geprägt. Trotz großer Unterschiede in Ort und Organisationsform sowie im aufbewahrten Wissen stehen die Gedächtnisinstitutionen dabei ähnlichen Problemen in Bezug auf Technik, Finanzierung und Urheberrecht gegenüber. Auch aus Sicht der Benutzer von digitalen Angeboten von Gedächtnisinstitutionen ist es unerheblich, wo sich die abgerufenen Informationen ursprünglich befanden.[1]

In der Schweiz zählten 2008 aus Sicht des Bundesamts für Kultur das Bundesarchiv, die Nationalbibliothek und das Landesmuseum zu den Gedächtnisinstitutionen des Bundes. Den Umgang mit der digitalen Herausforderung („Memopolitik“) dieser und anderer Schweizerischer Gedächtnisinstitutionen auf föderaler Ebene könne der Bund zwar nicht regeln, aber er müsse die Verantwortung für deren Befähigung dazu übernehmen.[2]

Mittwoch, 19. Oktober 2022

J. Osterhammel: Unterschiedliche Zeiterfahrungen in einer globalisierten Welt

 "[...] Hat die Geschichte ein Ziel?

Gerade in der Globalgeschichte müssen wir verschiedene Zeitvorstellungen und Zeitmuster neben-einander geltenlassen. Früher war die Annahme verbreitet, die sogenannten „Außereuropäer“ hingen zyklischen Vorstellungen von einer in mehr oder weniger großen Abständen immer wieder dasselbe hervorbringenden Geschichte an, während wir überlegenen Europäer den Zeitpfeil und mit ihm den Fortschritt entdeckt hätten. Gewiss, es gibt Fortschritt, es gibt Aufholjagden, aber es gibt auch Regression. Sie können nicht nur nacheinander auftreten, sondern auch gleichzeitig. Es gibt auch in der Moderne stillstehende Zeit, Stagnation. Mit all dem muss der Historiker – nun gar der Globalhistoriker – rechnen.

Sie sagen das heute. In einer globalisierten Welt, die doch eine Zeitrichtung hat? Wir alle blicken auf dieselben Börsen und spekulieren mit derselben Zukunft.

Die Standards sind nahe aneinandergerückt, die Maßstäbe sind oft dieselben. Aber gerade dadurch treten auch neue Widersprüche auf. Zum Beispiel der zwischen der Vernichtung von Dauer durch planetarische Gleichzeitigkeit auf der einen Seite und auf der anderen, der immensen Bedeutung des Wartens. Denken Sie an die Millionen Menschen in Flüchtlingslagern, die nichts anderes tun als warten. Da rast die Zeit nicht. Da steht sie bleiern still. Oder: Sie gerät in einen Leerlauf. Vielleicht wird das Warten umso schmerzhafter, je mehr die Zeit sich anderswo beschleunigt. Hier bewirkt die Globalisierung gerade nicht eine Vereinheitlichung von Zeiterfahrungen, sondern deren Auseinanderdriften. [...]"

(WELTGESCHICHTE: "Grenzen sind eine Illusion" Franfurter Rundschau 22.9.2012 (Osterhammel im Inerview mit Arno Widmann))

Sonntag, 9. Oktober 2022

Kolonialreiche im 18. Jahrhundert

 Auch amerikanische Walfänger gehören zur Kulturgeschichte Europas

"[...] Der britische Markt für Walfischtran begann bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich flauer zu werden, denn man verwendete in zunehmendem Maß Leuchtgas und Paraffin, die beide billiger waren; dagegen konnten sich die Walfänger von Neuengland eines ständig zunehmenden Binnenmarkts – in der Hauptsache in den ländlichen Gebieten – erfreuen. Bis zum Jahre 1820 hatten die Bewohner von Neuengland ihre alte Vorherrschaft wieder hergestellt; um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren mehr als drei Viertel der gesamten Walfangflotte der Welt in amerikanischen Händen, und die englischen Walfangschiffe waren fast ganz aus dem pazifischen Raum und aus den südlichen Breiten verschwunden.

Während nun die Britten damit begannen, Ostaustralien und Nordwestamerika – jedes auf eine begrenzte und ganz spezielle Art – zu besiedeln, war die Europäisierung der Inseln im pazifischen Ozean im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert in erster Linie das Werk der amerikanischen Walfänger und Händler. Diese Männer waren gewissermaßen das nautische Pendant zu jenen Pionieren, die den amerikanischen Westen besiedelten, und sie waren ebenso wie jene repräsentativ für die vermutlich wohl destruktivste Gesellschaft, die es auf der Welt jemals gegeben hat. Sie beuteten die Inseln wie völlig zügellose Privatunternehmen aus; es gab damals dort keine verantwortliche Regierung, die sie in irgendeiner Form zur Mäßigung gezwungen oder einer Kontrolle unterworfen hätte. Den Walen selbst war nicht sofort dasselbe Los beschieden wie den Seeottern; das blieb späteren Zeiten vorbehalten, in denen die Jäger in starkem Maß mit mechanischen Hilfsmitteln arbeiteten. Auch die Polynesier erlitten nicht gleich das Schicksal der Mohawks, denn weder die Walfischjäger noch die Händler ließen sich für dauernd in ihrem Territorium nieder. (S.508/509)

Jürgen Osterhammel zum Walfang:

"[...] Der Walfang erreichte den Höhepunkt seiner internationalen Bedeutung etwa zwischen 1820 und 1860. [...] Neuentdeckungen von Walpopulationen lösten "Ölkämpfe" zwischen einzelnen Schiffen und ganzen nationalen Flotten aus, die an den Goldrausch in Kalifornien oder Australien erinnerten. [...] 1848 reiche Walfanggründe entdeckt, vor allem bevölkert von dem heute fast verschwundenen Grönlandwal, die wichtigste Entdeckung überhaupt im Walfang des 19.Jahrhunderts, denn keine Walart liefert durch ihre Barten besseres "Fischbein".  Sie führte zur ersten kommerziellen Präsenz der USA im maritimen Norden, [...] Das Interesse der USA an Alaska wäre ohne diese vorausgehende Entwicklung kaum denkbar. [...] 

Die 1870er Jahre waren eine allgemeine Krisenzeit für den amerikanischen Walfang. Die einstweilige Rettung kam von der Nachfrageseite durch das neue Schönheitsideal der Wespentaille und die dadurch gestiegenen Ansprüche an eine Korsett-Technik, die auf die feste Elastizität von Fischbeinstäbchen angewiesen war. Es lohnte sich jetzt, noch weiter auf dem Meer vorzudringen. [...]

Das einzige nicht-westliche Volk, das unabhängig von westlichen Einflüssen Walen nachstellte, waren die Japaner. [...]  Seit dem späten 17.Jahrhundert verwandte man statt des Harpunierens die Methode, Wale (die vor Japan zumeist zu kleineren und langsamer schwimmenden Arten gehören) von Booten aus in große Netze zu treiben. Die Verarbeitung der Wale, bei der nichts ungenutzt blieb, geschah nicht auf Schiffen (wie bei den US-whalers), sondern an Land. [...]

(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.556/57)

Das Erschreckende: Die Europäisierung Neuenglands (und der angehenden USA) hat zu der nach John H. Parry "vermutlich wohl destruktivste[n] Gesellschaft, die es auf der Welt jemals gegeben hat" (S.509) geführt. Parrys Urteil geht selbstverständlich vor allem auf den auf Völkermord hinauslaufenden Umgang mit der indigenen Bevölkerung Nordamerikas zurück, die er in anderem Zusammenhang behandelt.


Von den Gründen des Niedergangs der polynesischen Kultur

Einflüsse von außen auf Polynesien  (Wikipedia)

Königreich Tahiti (Wikipedia)

Geschichte Tahitis (Wikipedia)

[...] die Polynesier erlitten nicht gleich das Schicksal der Mohawks, denn weder die Walfischjäger noch die Händler ließen sich für dauernd in ihrem Territorium nieder. Dass man jedoch diese wilden Horden von disziplinlosen Seeleuten auf die Inselbevölkerung losließ, erschütterte die fragilen Gesellschaftsstrukturen der Inselbewohner. In Tahiti hatte der Zerfall der polynesischen Lebensformen fast gleichzeitig mit dem Besuch der ersten Europäer auf dieser Insel begonnen. Sowohl Cook als auch Bougainville hatten diese Entwicklung vorausgesagt, und beide hatten auch die Faktoren richtig erkannt, die die Hauptschuld an dieser Entwicklung trugen: die bekannte Gruppe ansteckender Krankheit – einschließlich der Geschlechtskrankheiten –, die sich unter den isolierten Völkern, denen es an entsprechender Immunität mangelte, rasend schnell ausbreiteten; eine gefährliche Abhängigkeit von europäischen Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen und eine sich daraus konsequent ergebende Vernachlässigung angeborene Kunstfertigkeiten, die bis zu deren völligem Verlust reichte; schließlich noch eine zunehmende Missachtung der traditionellen Disziplin und eine Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen, mit deren Hilfe sie bisher aufrecht erhalten worden war. Diese Entwicklung wurde natürlich dadurch gefördert, dass sich im Inselbereich mächtige fremde Männer befanden, denen gegenüber diese Sanktionen wirkungslos waren.

Nach seinem zweiten Besuch auf Tahiti im Jahr 1792 berichtete Bligh, dass bereits Waldfangschiffe die Insel anliefen; die Herstellung von Steinäxten und von tapa – Kleidung aus Feigenbaumbast, deren Schönheit Cook so gerühmt hatte – war fast völlig eingestellt worden; viele Eingeborenen hatten ihre anmutige eigene Kleidung weggeworfen und dafür die abgelegten Kleidungsstücke der Seeleute angezogen, und selbst ihre Sprache hatte sich mit einer Art englischem Jargon durchsetzt. Sie waren schmutzig geworden, viele Inselbewohner infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten, und diese Krankheiten breiteten sich mit rasender Eile weiter aus. (S. 508-510)

"Rum und Feuerwaffen verstärkten noch die Auflösungserscheinungen. Viele Einwohner Tahitis waren nach den Angaben von Blei bereits dem Alkohol verfallen. Cooks alter Freund Tu (Pomare I.) hatte von den Meuterer der Bounty eine Anzahl von Musketen erworben, und er war auf dem besten Weg, nunmehr das zu werden, wofür Cook ihn ursprünglich bereits gehalten hatte, nämlich Oberhäuptling eines Großteils dieser Insel. Sowohl Rum als auch Musketen waren wertvolle Handelsartikel, mit denen die Besatzungen der Walfangfänger für die benötigten Lebensmittelvorräte bezahlten. Die Macht eines Häuptlings wurde nach der Zahl der europäischen Waffen bemessen, die er besaß. Die Musketen verstärkten die zerstörenden Kräfte der zahlreichen Stammeskriege und führten zu einem rücksichtslosen Despotismus im Verhalten der Häuptlinge. Der Besitz solcher Feuerwaffen verlieh den Diensten jener Männer, die diese Waffen zu gebrauchen wussten und die sie auch – was im Grunde noch wichtiger war – reparieren konnten, eine ganz besondere Bedeutung.

Darauf beruhte auch die Bedeutung der so genannten "Strandläufer" (beachcombers) – Meuterer, Ausgesetzte, Deserteure von Walfangschiffen und entflohene Sträflinge aus Neusüdwales: diese Männer gliedern sich in die polynesischen Gesellschaft ein, sie akzeptierten die polynesischen Lebensweise, sie bauten die Ressentiments der Polynesier dadurch ab, dass sie anfangs völlig hilflos waren, und sie wurden später häufig zu Protégés der polynesischen Häuptlinge. Viele von ihnen hatten nur den einzigen Wunsch, in einer Art alkoholischen Dämmerzustand am Strand zu liegen und sich dort zu sonnen; aber es gab auch "Strandläufer", die als Händler, Söldner, Politiker und in einigen kleinen Orten sogar als örtliche Herrscher auftraten; indirekt trugen sie alle dazu bei, die Gesellschaft, die sie tolerierte, zu unterminieren.

Am anderen Ende der breiten Skala europäischer Eindringlinge standen die Missionare. Das 18. Jahrhundert war in keinem Teil Europas ein ausgesprochen religiöses Zeitalter. Der Versuch, mit großem Eifer die Eingeborenen zu Christen zu bekehren, fand daher weder in Regierungskreisen noch bei der Aristokratie – und nicht einmal bei den anerkannten Kirchengemeinschaften selbst – besondere Unterstützung. Weder die Kurie in Rom, noch irgendeiner der großen katholischen Orden, noch die wohl etablierten Missionsgesellschaften der anglikanischen Kirche machten sich sofort daran, das Evangelium in der Südsee zu verbreiten. Die London Missionary Society repräsentierte die Dissidenten der englischen Mittelklasse, die die Autorität der englischen Staatskirche nicht anerkannten; es handelte sich dabei um eine Gruppe, die – abgesehen von einigen halbherzigen Versuchen in Neuengland während des 17. Jahrhunderts – sich bisher niemals mit der Verkündigung Verkündung des Evangeliums außerhalb Europas befasst hatte. Unter den 39 Menschen die im Jahr 1797 mit der Duff in Tahiti eintrafen, befanden sich vier nonkonformistische Priester; die übrigen waren Handwerker, von denen einige auch ihre Frauen und Kinder mitgebracht hatten. Sie standen in schärfsten Gegensatz zu allen dort anwesenden Gruppen: zu den Polynesien; zu den vorübergehend dort anwesenden Walfängern und den raffgierigen "Strandläufern" aller Schattierungen; zu den sich zwar distanziert verhaltenden, dabei aber doch neugierigen Seeoffizieren aus der Cookschen Schule; schließlich auch dem vornehmen wissenschaftlichen Zirkel von Banks und seinen Freunden. Sie waren eine tapfere Gruppe, die keine Hilfe von Außenstehenden zu erwarten hatte, und daher ist ihr Erfolg bei der Verkündigung des Evangeliums umso bemerkenswerter. Er ist zumindest teilweise, zweifellos auf ihrer rückhaltlose Hingabe und auf ihre absolute Gewissheit zurückzuführen - hier gab es doch endlich etwas Sicheres und Vorhersagbares in einer aus den Fugen geratenen Welt; der Erfolg war aber andererseits auch darauf zurückzuführen, dass sie sich mit ihrer Umsicht und Ihrer Hartnäckigkeit die Unterstützung der führenden einheimischen Häuptlinge zu sichern wussten." (Seite 510-512)

(John H. Parry: Europäische Kolonialreiche. Welthandel und Weltherrschaft im 18. Jahrhundert, Kindlers Kulturgeschichte Europas, Copyright Parry 1971, dtv 1983)

Datenlöschung in den USA

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