Sönke Neitzel über Stalingrad: "Der Tod war überall"
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel über die Schlacht von Stalingrad, Mythen um die Wehrmacht und die Frage, welche Rolle der Zweite Weltkrieg für Russlands Überfall auf die Ukraine spielt
[...] ZEIT Geschichte: Stalingrad war weder die opferreichste noch die entscheidende Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Warum hat sie trotzdem einen so herausgehobenen Platz in der Erinnerung?
Neitzel: An der Ostfront fielen mehr als 2,7 Millionen deutsche Soldaten, der Tod war überall. Aber den Hunger und das Ausharren in der Eiswüste, das Verrecken in den Ruinen, das gab es in dieser Dimension nirgendwo anders. Und dann gehen – nach offiziellen Zahlen, wir wissen es nicht genau – knapp hunderttausend Mann in Gefangenschaft, von denen die allermeisten sterben, weil sie schon unterernährt sind. Beim Zusammenbruch der Ostfront im Sommer 1944 starben noch viel mehr Soldaten, aber sie kamen ums Leben wie Millionen andere in diesem Krieg, sie sind nicht in der Kälte verhungert, es gab keinen Kannibalismus. In Stalingrad verdichtet sich die Kriegserfahrung. Und das an einem besonderen Ort. An den Kessel von Tscherkassy im Februar 1944 erinnert sich niemand, aber Stalingrad war symbolisch extrem aufgeladen.
ZEIT Geschichte: Wie viele Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten sind in Stalingrad umgekommen – und wie hoch waren die sowjetischen Verluste?
Neitzel: Die Rote Armee verlor bei der Verteidigung und der Rückeroberung der Stadt von Juli 1942 bis Februar 1943 etwa 400.000 Soldaten. Bei der Wehrmacht und ihren rumänischen Verbündeten müssen wir von etwa 270.000 Opfern ausgehen, die während der Kämpfe in und um Stalingrad und in der Gefangenschaft umkamen. [...]
ZEIT Geschichte: Was war Stalingrad aus sowjetischer Sicht?
Neitzel: Auch für die Sowjetunion war Stalingrad ein symbolischer Ort, hier sollte der Siegeszug der Wehrmacht um jeden Preis gestoppt werden. Mit seinem Haltebefehl "Keinen Schritt zurück" hat Stalin den deutschen Vormarsch im Blut der eigenen Menschen ertränkt: Die sowjetischen Verluste liegen ja deutlich höher als die der Deutschen. Dass die Rote Armee eine Gegenoffensive startet und es zum ersten Mal schafft, eine ganze deutsche Armee einzukesseln und deren Oberbefehlshaber gefangen zu nehmen, also die Wehrmacht mit deren eigenen Waffen schlägt, war für die Sowjets ein Wendepunkt, zumindest in psychologischer Hinsicht.
ZEIT Geschichte: Wann hat die Wehrmacht den Krieg tatsächlich verloren?
Neitzel: Im Spätsommer 1941. In vielen Schulbüchern und Fernsehdokumentationen heißt es immer noch, Stalingrad sei der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs gewesen, das ist Quatsch. Psychologisch, in der internationalen Presse, auch in der Wirkung auf die Neutralen war Stalingrad ein Wendepunkt, aber tatsächlich hat sich das Blatt schon in dem Moment gewendet, in dem der deutsche Plan für den Angriff auf die Sowjetunion gescheitert ist. Hitler und die Generalität wollten die Sowjetunion in einem kurzen Feldzug niederwerfen, um dann den Rücken frei zu haben für den Krieg gegen die Westmächte. Bereits im August 1941 war klar, dass das nicht funktioniert; die Völker der Sowjetunion kämpften unter hohen Verlusten tapfer für ihr Land. Als Hitler im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärte, waren die Deutschen im Grunde schon seit etlichen Monaten am Ende. Auf einen Misserfolg in der Sowjetunion waren sie nicht vorbereitet.
ZEIT Geschichte: Im August 1941 waren die meisten Deutschen noch siegestrunken. Warum wurde die Kriegswende nicht als solche wahrgenommen?
Neitzel: Weil man meistens auf die großen Schlachten schaut: Königgrätz, Sedan, Verdun, in diese Reihe gehört auch Stalingrad. Entschieden werden Kriege aber oft durch die Rüstungsproduktion und an der Frage, wie viele Menschen zur Verfügung stehen oder wie der Nachschub organisiert wird. Die Deutschen wussten, dass sie in diesen Fragen am kürzeren Hebel sitzen, deswegen haben sie auf den Faktor Geschwindigkeit gesetzt, auf die Blitzkriege. Und diese Strategie scheiterte eben im Spätsommer 1941, auch wenn dies für die Zeitgenossen nicht deutlich wurde, weil Produktions- und Verlustzahlen ja geheim waren und die Niederlage vor Moskau im Winter 1941 verschleiert wurde. Die Wehrmacht verlor bis März 1942 eine Million Mann, aber gleichzeitig war man eben weit in die Sowjetunion vorgedrungen, es gab die großen Kesselschlachten, die Siegesmeldungen und die Hoffnung.[...]
ZEIT Geschichte: Das heißt, die 6. Armee war noch radikaler in der Umsetzung der Vernichtungsdoktrin als andere Armeen?
Neitzel: Ja, wobei die 6. Armee ein riesiger Verband war, in dem 1941 zum Teil andere Leute kämpften als 1942 in Stalingrad, es gab ja hohe Verluste. Und nicht jeder Soldat hat eine Blutspur durch die Ukraine gezogen. Aber die Oberbefehlshaber setzten ihre Akzente. So wurde etwa der Befehl zur Ermordung der Kommissare überall umgesetzt, aber mit unterschiedlicher Radikalität. Und die 6. Armee hatte einen Befehlshaber, der extrem radikal war und sich vollauf mit dem Vernichtungskrieg identifizierte.
ZEIT Geschichte: Auch das bekannte Massaker von Babyn Jar fiel organisatorisch in die Zuständigkeit der 6. Armee.
Neitzel: Bei diesem größten Einzelmassaker der Schoah in der Sowjetunion gehörten die Mordschützen den Einsatzgruppen der SS an, aber die Wehrmacht hätte ihnen den Zutritt zum Operationsgebiet verwehren können. Es gab ein Abkommen, nach dem die Einsatzgruppen nur im rückwärtigen Raum operieren sollten. Die Wehrmacht ließ sie trotzdem in den Frontbereich. Es kam oft vor, dass Städte erobert wurden, und einen Tag später rückten die Einsatzgruppen an. So war es auch in Kiew und Babyn Jar.
ZEIT Geschichte: Die 6. Armee unterstützte die Mordeinheiten hier auch logistisch.
Neitzel: Es gab eine Komplizenschaft. Die Propagandakompanien druckten die Aushänge, die verkündeten, dass sich die Juden zusammenfinden sollten. Und es war eine Pioniereinheit der Wehrmacht, die nach dem Massaker die Schlucht sprengte, um die Leichenberge zu verscharren. Für Generale wie Reichenau – aber letztlich gilt das für alle anderen auch – war diese Arbeitsteilung von Vorteil: In der Vorstellung der Militärs erledigten die SS-Männer mit dem Judenmord die "Drecksarbeit" und sicherten der Wehrmacht damit den Rückraum. Wenn dabei Unschuldige getötet wurden, fiel das nicht sonderlich ins Gewicht.[...]
ZEIT Geschichte: Die NS-Propaganda und später die memoirenschreibenden Generale verwandelten Täter in Opfer: Die deutschen Angreifer wurden zu heldenhaften Verteidigern der Stadt erklärt. Sind wir von diesem Opfermythos heute geheilt?
Neitzel: In der Bonner Republik war das Bild des Opfergangs noch sehr präsent, geprägt durch Autoren wie Paul Carell. Selbst der Stalingrad-Film von Joseph Vilsmaier aus dem Jahr 1993 bedient noch viele der alten Klischees. Heute ist das anders. Über viele Jahrzehnte waren Stalingrad und Auschwitz die Referenzpunkte der Deutschen für den Zweiten Weltkrieg – geblieben ist nur noch Auschwitz als Synonym für die Verbrechen. Stalingrad ist von der Bildfläche verschwunden. Ich glaube, die Politik sucht insgesamt noch nach einer Haltung zu den 5,4 Millionen toten Wehrmachtsoldaten aus dem Weltkrieg.
ZEIT Geschichte: Auch um die sowjetischen Soldaten ranken sich Mythen. Entweder treibt sie Zwang und Terror an die Front, wie der britische Historiker Antony Beevor betont, oder sie kämpfen "heldenhaft", wie es beim britischen Fachkollegen Iain MacGregor heißt. Liegt die Wahrheit wie immer dazwischen?
Neitzel: Deshalb nerven wir Historiker so: Wir versuchen abzuwägen und zu sagen, dass es komplizierter ist. Iain MacGregor und Antony Beevor wollen ihre Bücher verkaufen und sind erfolgreich dabei. Grautöne stören in dieser Hinsicht eher.[...]
ZEIT Geschichte: Wann hat die Wehrmacht den Zenit ihrer Kampfkraft überschritten?
Neitzel: Wir haben ein viel zu positives Bild von der Kampfkraft der Wehrmacht. Dass die Wehrmacht kriminell war, haben mittlerweile hoffentlich alle verstanden, aber dass die deutschen in militärischer Hinsicht die besten Soldaten der Welt waren, dieser Mythos aus den Landser-Heften hat sich lange gehalten. Die Wehrmacht war die einzige Armee, die den Bewegungskrieg beherrschte, aber sie hat es nicht geschafft, sich taktisch und technisch auf die zweite Kriegshälfte einzustellen, in der es nicht mehr um Geschwindigkeit ging, sondern um Feuerkraft. Das wurde nach Stalingrad offenkundig und 1943 auch in den Kämpfen gegen die US-Armee in Italien. Die Wehrmacht war weniger lernfähig als die Kaiserliche Armee des Ersten Weltkriegs, die sich eher anpassen konnte. Unser Bild geprägt haben die großen Siege bis 1941, dagegen sind die hohen Verluste des letzten Kriegsjahres aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden.
ZEIT Geschichte: Waren die Militärhistoriker ganz unschuldig daran, dass der Mythos der "besten Soldaten" so mächtig wurde?
Neitzel: Die militärhistorische Forschung hat sich zu wenig um die handwerkliche Seite des Krieges gekümmert und den Mythos der taktischen Exzellenz zu wenig infrage gestellt, deshalb konnte er so lange blühen. Solche Mythen haben aber auch ihre Funktion, sie stiften Sinn. In der Nachkriegszeit war das Narrativ des "besten Soldaten" das einzig Positive und Verbindende, auf das man sich angesichts all der Toten und der Verbrechen berufen konnte. Noch Ende der Sechzigerjahre hatten zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten eine Vergangenheit in der Wehrmacht, überall gab es Veteranen. Man konnte sich sagen: Es war schlimm, aber wir haben viel geleistet. Und die Alliierten stießen ins selbe Horn, die Briten waren ja ganz besessen von General Rommel. Je stärker die Wehrmacht erschien, desto größer wurde der eigene Erfolg. Das Narrativ konnte sich so lange halten, weil es von vielen Seiten bedient wurde.[..]
ZEIT Geschichte: Die Offensive der Wehrmacht im Sommer 1942 begann in Städten wie Charkow und Isjum, die heute wieder an der Front liegen. Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg gegenwärtig im Krieg Russlands gegen die Ukraine?
Neitzel: Als Militärhistoriker zucke ich zusammen, wenn ich von Orten wie Saporischschja höre, wo es schon vor dem Zweiten Weltkrieg einen großen Staudamm gab, oder Kriwoi Rog, Charkow und Isjum, wo die Rote Armee und die Wehrmacht 1941/42 und im Herbst 1943 wie Rammböcke aufeinanderprallten. Allen Seiten dient der Zweite Weltkrieg heute als Rechtfertigung. Putin will ja so eine Art Großen Vaterländischen Krieg gegen den Westen führen und gegen angebliche ukrainische Faschisten – das bezieht sich auf die ukrainischen Nationalisten, die im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen paktiert haben. Der ukrainische Ex-Botschafter Andrij Melnyk hingegen hat immer an die Verbrechen der Deutschen an den Ukrainern erinnert, um die historische Verpflichtung herauszustellen, der Ukraine zu helfen. Bei Frank-Walter Steinmeier ging es auch um Schuldbewältigung, aber vor allem gegenüber Russland, die Ukraine kam in seinen Reden lange Zeit nicht vor. Und denken Sie an Annalena Baerbock, die noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz kurz vor Beginn des Krieges gesagt hat, aus historischen Gründen könnten wir keine Waffen liefern.
ZEIT Geschichte: Liegt es an den Weltkriegsbildern von deutschen Panzerarmeen in der Donsteppe, dass Deutschland sich so schwer damit getan hat, Panzer zu liefern?
Neitzel: Ich halte das für vorgeschoben. Einige Sozialdemokraten vom linken Flügel der Partei wollen prinzipiell keine Waffen liefern, weil sie denken, dadurch könnte der Krieg eskalieren. Ich habe mal die provokante Frage gestellt, was eigentlich wäre, wenn Putin Gotland angreift: Dann könnte man keine "historischen Gründe" anführen, denn Schweden war nicht von den Deutschen besetzt. Und trotzdem würden wahrscheinlich keine schweren Waffen geliefert. Meines Erachtens hat Deutschland sich in den zurückliegenden zwei, drei Jahrzehnten zu sehr hinter der Vergangenheit versteckt, hat sich bei Auslandseinsätzen einen schlanken Fuß gemacht und damit auch die Nato-Partner genervt, die sich längst mehr militärisches Engagement von uns wünschen.
ZEIT Geschichte: Sie sind Mitglied der Deutsch-Russischen Geschichtskommission, eines Verbunds von Historikerinnen und Historikern aus beiden Ländern. Gibt es gerade viel zu besprechen?
Neitzel: Nein, die Arbeit der Kommission ruht. Die Bundesregierung hat beschlossen, die institutionellen Kulturbeziehungen auf Eis zu legen. Ich begrüße das, denn die Kommission – einst gegründet von Helmut Kohl und Boris Jelzin – ist auf russischer Seite hoch angesiedelt, der Vorsitzende hat direkten Zugang zu Putin. Ich bin seit 2016 dabei, mein Eindruck ist: Bilateral kann man mit den Kollegen aus Russland viel besser reden als auf offizieller Ebene, denn die russische Geschichtspolitik ist sehr viel strikter geworden. In der Kommission hat nach meinem Eindruck die russische Seite versucht, die Geschichte immer mehr für aktuelle politische Zwecke zu instrumentalisieren. Auch deshalb ist es gut, dass die Arbeit ruht."
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