Donnerstag, 27. November 2025

Das Verhältnis von Deutschland und Ukraine

FR: Wer hat die Ukraine übersehen – und warum?

Schulze Wessel: Die Blindstelle zieht sich durch Politik und Öffentlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie reicht vom schlichten Übersehen über das bewusste Ignorieren bis hin zur aktiven Verdrängung. All das wirkt im deutschen Blick auf die Ukraine zusammen. Die Ukraine war – und ist zum Teil noch immer – ein blinder Fleck im mentalen Kartenwerk der Deutschen. [...]

FR: Steinmeier und Merkel argumentierten lange im Modus von Christopher Clarks „Schlafwandlern“: Jede Eskalation führe in einen großen Krieg – also müsse man sich zurückhalten.

Schulze Wessel: Das ist ein Grundfehler. Man leitete die Politik von einem historischen Szenario ab, das weder 1914 exakt beschreibt noch auf die Gegenwart passt. [...] Doch 2014 und 2022 erneut lag kein Hineinschlittern vor. Es gab einen klar definierten Aggressor. Dass man die Lage in dieses 1914-Narrativ einpasste, war fatal. Sehr viel angemessener wäre das historische Szenario des Zweiten Weltkriegs gewesen: ein aggressiver Staat, der nicht durch wirksames Containment gestoppt wird. Diese Einsicht setzte viel zu spät ein – und bis heute nicht vollständig. [...]

"Man hätte diesen Krieg verhindern können" Martin Schulze Wessel im Interview FR 27.11.25

Fontanefan: Schulze Wessel schreibt Deutschland eine Verantwortung für das Schicksal der Ukraine zu, die der für das Existenzrecht Israels entspreche. Das blendet den entscheidenden Unterschied aus: Der Holocaust ist ein beispielloser Völkermord, der vom deutschen NS-Staat ausging. Der deutsche Versuch, die Ukraine aus dem russischen - später dem sowjetischen - Imperium herauszulösen und in deutsche Abhängigkeit zu bringen, gehörte zu den Weltmachtvorstellungen, die in Deutschland in beiden Weltkriegen eine wichtige Rolle spielten. Das Unrecht, das dadurch für die Ukraine durch die Weckung von Selbständigkeitshoffnungen entstand, war um mehrere Größenordnungen geringer als der Holocaust. Es war aber auch deutlich geringer als das, das den Völkern der Sowjetunion durch den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion zugefügt wurde, und auch geringer als das, das der Bevölkerung der Ukraine in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum sowjetischen Imperium mit dem Holodomor geschah. 

Wenn Deutschland nach 1945 an falschen Hoffnungen für die Ukraine beteiligt war, so geschah das im Rahmen der NATO und der EU. Die NATO ist aber ein Verteidigungsbündnis und nicht eine Organisation zur Auflösung von Imperien. Der Fehler, der der Politik von NATO und der EU und damit bedingt auch der deutschen Außenpolitik vorzuwerfen ist, ist daher nicht, dass sie nicht energisch genug die Auflösung der Imperien Sowjetunion und Russland betrieben hätte, sondern dass sie nicht ernsthaft auf eine Friedensordnung für Gesamteuropa hingearbeitet hat, wie sie zu einer Friedensdividende hätte führen können.

Als Spezialist für osteuropäische Geschichte kennt Schulze Wessel die Einzelheiten der Entwicklungen in Osteuropa weit genauer als ich. Die Vorstellung, NATO und EU hätten die Ukraine in ihre Organisationen aufnehmen sollen, hat erschreckende Ähnlichkeit mit den Weltmachtsvorstellungen Deutschlands, die zu den beiden Weltkriegen geführt haben. 

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