Samstag, 2. Dezember 2023

Zeitgeschichte nach 1945

 "[...] die häufige Wahl Europas als räumlicher Referenzpunkt [scheint] in der Regel eher eine pragmatische Entscheidung angesichts der vorhandenen wissenschaftlichen Expertise denn eine konzeptionelle Entscheidung darzustellen. Und doch erscheint diese Selbstbeschränkung angesichts des sich nach 1945 bahnbrechenden neuen Globalisierungsschubes gerade für die Zeitgeschichte unbefriedigend. Nicht nur bleibt der politische und ökonomische Bedeutungsgewinn nicht-europäischer Regionen seit 1945 unberücksichtigt, sondern eine pragmatische Europazentrierung erschwert auch eine kritische Reflexion in der Öffentlichkeit zirkulierender und häufig essentialistischer Konzepte von Europa.

Wie erhellend eine Einbeziehung der außereuropäischen Geschichte für die Zeitgeschichte sein kann, belegte unter anderem eine ausgezeichnete Sektion zu „Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung zwischen Staat und Zivilgesellschaft“, in der anhand der Beispiele Spanien, Guatemala, Südafrika und Australien verschiedene Modelle politischer und geschichtskultureller Aufarbeitung von Bürgerkriegen bzw. (kolonialer) Gewalt verglichen wurden. Die Vorträge zeichneten sich dadurch aus, dass sie Politik und Debatten gesellschaftlicher Befriedung und Versöhnung in den weiteren Kontext von Projekten der Nationsbildung stellten, an denen auch die Geschichtswissenschaften prominent beteiligt waren und sind. Auch wenn die Fallbeispiele im Einzelnen große Unterschiede aufwiesen, war es ein besonderes Verdienst der Sektion, die Kontinente übergreifenden Gemeinsamkeiten der Problemstellungen herauszustellen. Für den deutschen Betrachter warfen die Beiträge zugleich neues Licht auf Besonderheiten der doppelten deutschen Vergangenheitsaufarbeitung nach 1945 und 1989, etwa die Dominanz rechtlicher Fragen wie der Vermögensrestitution und Entschädigung in der Debatte der frühen Bundesrepublik. Es war fast bedauerlich, dass zwei Tage die hier geführte Diskussion von einer Sektion zur Wiedergutmachung in Deutschland und Israel trennten, die durch die Konzentration auf die Praxis der Wiedergutmachung in der Bundesrepublik und in Israel das Ringen um Wiedergutmachung in einen breiteren gesellschaftlichen und bilateralen Kontext stellte. Offen blieb, ob der 11. September 2001 eine Zäsur in den neueren internationalen Debatten um Vergangenheitspolitik und -aufarbeitung bedeutete, die ihren Ausgangspunkt in den Nürnberger Prozessen hatten. Zumindest in den USA sind die von der Clinton-Administration noch massiv geförderten Forschungen zur transitional justice nach den Terroranschlägen schlagartig in den Hintergrund getreten. [...]" (S.53/54)

Till Köstler: Zeitgeschichte nach 1945 (Bericht vom Historikertag 2006)

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