Mittwoch, 24. April 2024

Armut in der Spätantike und heute

 Wenn man aufgrund der inzwischen recht hohen Qualität und wegen des leichten Zugriffs auf die Wikipedia gewohnt ist, sich weitgehend dort über historische Zusammenhänge zu informieren, hat es manchmal etwas Erfrischendes, historische Darstellungen zu lesen, in denen der Autor sich allgemeine Aussagen erlaubt, wie sie bei einem Autorenkollektiv wie bei der Wikipedia als Theoriefindung verpönt wäre. 

So schreibt Steven Runciman: "Das Leben der Armen ist mehr oder weniger zu allen Zeiten und in allen Ländern dasselbe: es erschöpft sich in der angstvollen Sorge um den nackten Lebensunterhalt." (Steven Runciman: Von der Gründung bis zum Fall, Erstfassung 1932, zitiert nach dtv 1983, S.244) 

Und fährt dann fort: "Die Armen von Konstantinopel lebten in tiefem Schmutz, obwohl ihre Slums unmittelbar in die Paläste der Reichen anstießen, aber sie waren vielleicht doch besser daran als die Armen der meisten Völker. Der Zirkus, ihre einzige Erholung stand ihnen kostenlos offen. Die unentgeltliche Verteilung von Brot war zwar von Herakleios [619] abgeschafft worden, aber freie Verpflegung stand nach wie vor für alle bereit, die für den Start arbeiteten, etwa bei der Instandhaltung der öffentlichen Anlagen und Aquädukte oder in den staatlichen Bäckereien. Es war Aufgabe des Quästoren, darüber zu wachen, dass Mittellose auf diese Art eine nützliche Arbeit bekamen und dass niemand ohne Beschäftigung blieb. Um das zu garantieren, war es verboten, die Stadt ohne behördliche Arbeitsgenehmigung zu betreten." (S. 244)

Offenkundig hier die Abstufung der Armut zwischen der Großstadt, deren Arme (ähnlich wie in de Festung Europa) vor der Konkurrenz durch Migranten geschützt wurden. 

Nun wieder Runciman:

"Angesichts all dieser karitativen Einrichtungen ist es wahrscheinlich, dass es nur wenig wirklichen Hunger gab. Es ist auch wesentlich zu bemerken, dass niemals anarchistische oder kommunistische Ideen der Antrieb waren, wenn das Volk sich zu seinen Aufständen erhob. Dabei mochte es zum Beispiel um die Absetzung eines schikanösem Ministers gehen oder um die Ausrottung verhasster Fremder, jedoch niemals um den Versuch einer gewaltsamen Veränderung der Gesellschaftsordnung. Wenn das Volk, wie nicht selten, seine ursprünglichen souveränen Rechte anmeldete, so geschah es tatsächlich eher zur Rettung des purpurnen kaiserlichen Blutes vor einem übermütigeren Usurpator.

Neben den freien Armen gab es noch eine beträchtliche Sklavenbevölkerung. Wie groß diese tatsächlich war, lässt sich nicht mehr sagen; dass Christen versklavt wurden, hielt man schon bald für Unrecht – freilich waren auch die Freien auf dem flachen Land kaum mehr als Sklaven. jedenfalls wurden bis zum zwölften Jahrhundert islamische Ungläubige und heidnische Sklaven sowohl im privaten Dienst wie auch in den staatlichen Bergwerken und anderen staatlichen Unternehmen beschäftigt. Es waren entweder nicht zurückgekaufte sarazenische Gefangene oder öfter noch Menschenware, die die Händler aus den Steppen herbeischafften; vor allem die Rus/sen verkauften regelmäßig die Beute ihrer Raubzüge auf dem Markt von Konstantinopel. Es bestand allerdings von Anfang an ein Ressentiment gegen die Sklaverei, das ständig zunahm. [...] Allmählich stieg infolge der Ausbreitung der kulturellen Errungenschaften der Preis für die menschliche Ware zu unerschwinglicher Höhe; doch wahrscheinlich waren noch im 14. Jahrhundert ins Konstantinopel Sklaven zu finden. Soweit sie privaten Herren gehörten, war ihr Leben vermutlich durchaus erträglich und menschenwürdig; ihre Leidensgenossen im Staatsbesitz freilich wurden wohl immer noch wie Vieh behandelt." (S. 245/46)

Jetzt aber zur Darstellung der Wikipedia, hier im Blick auf die gesamte Spätantike:
"Dem gegenüber galt der Großteil der Bevölkerung als „arm“, was aber nur grundsätzlich bedeutete, dass man nicht von seinen Pfründen oder seinem Grundbesitz leben konnte, sondern für seinen Broterwerb selbst arbeiten musste. Daher wird diese Vorstellung von einer simplen Unterteilung in „Arm“ und „Reich“ der komplexen Realität kaum gerecht, wenngleich in den Quellen teils – wie zu allen Zeiten – gegenüber den sozialen Eliten der Vorwurf der Verschwendungssucht erhoben wird.

Auf dem Land galt für die Pächter der Großgrundbesitzer in der Regel die Bindung an das zu bearbeitende Stück Land, die sogenannte Schollenbindung (siehe Kolonat). Diese Maßnahme sollte die Bearbeitung des Bodens sichern und damit dem Staat stabile Einnahmen garantieren. Eine generelle, reichsweite Verarmung der Kleinbauern und ihre grundsätzliche Verdrängung durch die Kolonen lässt sich dabei nicht konstatieren. Auf dem Land, vor allem in Gallien, kam es jedoch vereinzelt zu Aufständen der Bagauden, deren Ursachen umstritten sind, ähnlich wie die Hintergründe der Circumcelliones in Africa. Insgesamt kennen wir für die Spätantike auch unter Einrechnung städtischer Revolten weniger Fälle von sozialen Unruhen als für die früheren Phasen der römischen Geschichte.[334]

Sklaven waren weiterhin allgegenwärtig und ihr Besitz war wohl kein Privileg reicher Personen; bereits Familien mit einem mittelgroßen Einkommen setzten durchaus Sklaven ein, teils verfügten sogar Kolonen über sie. Die Bedeutung der Sklaven variierte aber stark in den unterschiedlichen Provinzen. Während in Italien, Sizilien und Hispanien Sklaven seit der frühen Kaiserzeit in großem Umfang in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, war ihre Bedeutung etwa in Ägypten sehr viel geringer, da dort stärker freie Arbeiter beschäftigt wurden. In Africa und Kleinasien bestand die überwiegende Mehrheit der Arbeiter ebenfalls aus Freien. Insgesamt scheinen Sklaven auf großen Gütern weniger eingesetzt worden zu sein.[335]"

Hier wird sorgfältig vermieden, eine allgemeine Aussage über Armut - und sei es auch nur in der Spätantike - zu machen, und zwar werden gleich alle, die überhaupt für ihren Broterwerb arbeiten müssen, zu den im weiteren [damals üblichen] Sinne zu den Armen gerechnet.

Dass die Stadtbevölkerung von Konstantinopel, die die Energie zu ideologisch bedingten (nicht aus Hungersnot mehr oder minder erzwungenen) Aufständen hatte und die Kleinbauern nicht existenzgefährdend verarmt war, scheint aus dieser Darstellung hervorzugehen. Demnach bestand die soziale Scheidung damals wohl eher zwischen privaten und öffentlichen Sklaven und zwischen abhängigen und versklavten Landarbeitern. Die in Bergwerken oder auf Galeeren eingesetzten Sklaven hatten wohl selbst gegenüber versklavten Landarbeitern ein besseres Los. 

Im Blick auf unseren heutigen Sozialstaat wird Runcimans Definition von Armut, sie erschöpfe "sich in der angstvollen Sorge um den nackten Lebensunterhalt" so pauschal gewiss nicht gelten, doch angesichts der Überlastung der staatlichen Finanzen und der anscheinend unmöglichen Heranziehung der Superreichen zu einem wesentlichen solidarischen Beitrag zu den zwingenden staatlichen Aufgaben kommt wieder Sorge auf. 

Freilich, existenziell in dem Sinne, dass es um das nackte Überleben geht, ist sie bisher nur im Globalen Süden angesichts von Dürren und Überschwemmungen, die Millionen bedrohen, begründet. - Wenn die Solidarität weiterhin ausbleibt, könnte es auch in Europa weithin zur existenziellen Armut, wie sie die Unterschicht der antiken Armen betraf, kommen. 


Außerhalb des Zusammenhangs hier erwähnt, weil er von Runciman oft herangezogen wird: Michael Psellos 

"[...] Aber auch kein Urteil ist zu hoch, um die geistige Kraft dieses Mannes zu kennzeichnen. Sein Wissen erstreckte sich auf alle Gebiete und war den Zeitgenossen schlechthin ein Wunder. Er war erfüllt von einer glühenden Liebe für die antike Weisheit und Dichtung. … Das Studium der Neuplatoniker genügte ihm nicht, er fand den Weg zur Quelle, hat Platon kennengelernt und kennen gelehrt.. Er war der größte byzantinische Philosoph und zugleich der erste große Humanist.“


– Georg OstrogorskyGeschichte des byzantinischen Staates[9] (Wikipedia)

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