Mittwoch, 14. Juni 2023

Aus der Vorgeschichte der Ukraine

Aus der Sicht eines französischen Historikers von 1965: Roger Portal


Swjatoslaw I.  "er fiel, und aus seinem Schädel machten die Sieger eine Trinkschale." (S.60)

"So war Kiew kaum mehr als eine tote Stadt, als es 1240 von der Woge der mongolischen Invasion überschwemmt wurde [...]
Hinzukam die völlige Unterbrechung aller Handelsbeziehungen zu Byzanz seit seiner Plünderung durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204.
Es ist ein merkwürdiges Paradox, dass die Christenheit des Westens, ohne es zu ahnen, den Horden Asiens Vorschub geleistet und so dazu geholfen hat, einen Staat aus der Landkarte zu tilgen, der nach Osten den äußersten Vorposten der Christenheit gebildet hatte." (S. 75)

"Während der Zeit des europäischen Frühmittelalters wurde die Ostukraine etwa um das Jahr 750 Teil des Chasarenreiches. Außerdem gehörte es zum Handelsnetz der Radhaniten; diese jüdischen Kaufleute stellten etwa vom 8. bis zum 11. Jahrhundert die Handelsbeziehungen zwischen den verfeindeten Ländern des Abendlandes und der Islamischen Welt sicher und betrieben dabei sogar Handel mit Indien und China – dies stellt wahrscheinlich die beste Begründung für die Wichtigkeit des Judentums im Chasarenreich dar. Die Magyaren, die um das Jahr 600 n. Chr. noch im Wolgagebiet lebten, siedelten sich um das Jahr 900 n. Chr. im Gebiet zwischen Dnister und Dnepr an – vermutlich das von den Magyaren sogenannte Etelköz (wörtlich: Land zwischen den Flüssen) an der Westgrenze des Chasarenreiches, dem sie tributpflichtig waren. In dieser Zeit schlossen sich ihnen auch die Kabaren an – drei Stämme, die gegen das Chasarenreich rebellierten – und zogen aufgrund des Drucks der Petschenegen aus den Weiten der Eurasischen Steppengebiete und der mit ihnen verbündeten Bulgaren unter Zar Simeon I. in Richtung Westen in die Karpaten. Nach dem Niedergang des Chasarenreiches kamen die Reitervölker der Petschenegen, Kumanen sowie die Goldene Horde. [...]
Im 9. Jahrhundert errichteten ostslawische Stämme unter dem Einfluss skandinavischer Waräger an den Handelswegen von Skandinavien und Nowgorod nach Süden in Richtung Konstantinopel ein lose verfasstes Großreich mit der Hauptstadt Kiew, die „Kiewer Rus“. Dessen Herrscher Wladimir der Große (reg. 980–1015) entschied sich im Jahre 988 für die Annahme des Christentums nach östlichem Ritus. Der Süden der heutigen Ukraine wurde bis ins 13. Jahrhundert von nomadischen Steppenvölkern, insbesondere den Petschenegen und später den Kyptschaken (Kumanen, „Polowzern“; ukrainisch Половці), beherrscht. [...]
Fürstentüm KiewFürstentüm NowgorodFürstentüm Galizien (später Fürstentum Galizien-Wolhynien), Fürstentüm Wladimir (später Fürstentüm Wladimir-Susdal), Fürstentüm SewerienFürstentüm SmolenskFürstentüm Polotzk haben sich oft auch mit der Unterstützung von ausländischen Armeen gegenseitig bekämpft. 1169 eroberte der Fürst von Wladimir-Susdal Kiew, brannte es nieder, eignete sich den Titel des Großfürsten an und setzte in Kiew seinen Sohn als Fürsten ein. 1202 nahm Roman von Halytsch-Wolhynien Kiew in Besitz und leitete daraus einen Anspruch auf die Würde des Großfürsten ab, aber schon im Folgejahr verlor er die Stadt an die Fürsten von Perejaslawl. [...]
Nach der Plünderung von Kiew 1240 weichen die historischen Perspektiven der russischen und ukrainischen Historiker voneinander ab: die einen konzentrieren sich auf das Fürstentüm Wladimir-Susdal, die anderen auf das Fürstentum Galizien-Wolhynien. Natürlich war die Kirche (genauer gesagt die Orthodoxen und Katholischen Kirchen) ein wichtiger Bestandteil des Machtkampfes in dieser Zeit. Dieser Machtkampf konnte durch den Umstand, dass Krim-Khanat im Süden der Ukraine unter dem Einfluss der Osmanen stand und somit islamisch war, nur noch verschärft werden.

Eine eigenständige Bedeutung erlangte ab dem 12. Jahrhundert das westukrainische Fürstentum Halytsch-Wolhynien (siehe auch Wolhynien und Geschichte Galiziens). Im 13. Jahrhundert musste es die Oberhoheit der Goldenen Horde akzeptieren und dem militärisch stärkeren Kontrahenten Wladimir-Susdal widerstehen. So suchte es Unterstützung im Westen und 1253 ließ sich Daniel Romanowitsch von Galizien von einem päpstlichen Legaten zum Rex Rusiae („König von Russland“) krönen.[19]

Der Süden der heutigen Ukraine wurde zu einem eigenständigen, unter osmanischer Schutzherrschaft stehenden Krim-Khanat. Große Teile der Steppengebiete in der heutigen Südukraine wurden in der Zeit 1368–1783 von den Nachfahren der Nogaier-Horde, den Schwarz-Nogaiern, beherrscht und in Gemengelage besiedelt. Viele als „Krimtürken“ aufgefasste Nomaden waren in Wirklichkeit Nogaier.

Im 14. Jahrhundert zerfiel das Fürstentum, sein nordöstlicher Teil wurde, wie auch die zentralukrainischen Gebiete am Dnepr mit Kiew, nach der Schlacht am Irpen Teil des Großfürstentums Litauen (siehe Geschichte Litauens). Den südwestlichen Teil des Fürstentums, („Rotruthenien“, „Galizien“) eroberte Kasimir der Große von Polen Mitte des 14. Jahrhunderts (siehe Geschichte Polens). [...]

Im durch die Lubliner Union von 1569 gebildeten litauisch-polnischen Doppelstaat wurden auch die bisher zu Litauen gehörenden ukrainischen Gebiete der polnischen Krone unterstellt. Im Gegensatz zu der bisherigen liberalen Politik Litauens nahmen ab diesem Zeitpunkt die wirtschaftliche und religiöse Unterdrückung der orthodoxen Bevölkerung durch Polen zu. Um die religiöse Spaltung zu überwinden, wurde die Idee einer „Wiedervereinigung“ von katholischer und orthodoxer Kirche in Litauen-Polen verfolgt. Deren konkrete Umsetzung in der Kirchenunion von Brest 1596 stieß aber auf viel Widerstand unter den Ruthenen: Die neu geschaffene griechisch-katholische Kirche, die den östlichen Ritus beibehielt, aber dem Papst unterstellt war, wurde von vielen nicht akzeptiert, da sie organisatorisch nur als Anhängsel der Westkirche wirkte. Weitere Ursache für Konflikte war die Tatsache, dass der ukrainische Adel nicht als gleichberechtigte dritte Stütze des Staates neben den Polen und Litauern anerkannt wurde.

Der Rest der Ukraine stand zur gleichen Zeit unter der Herrschaft des Zarenreich Russlands.

Gegen den Widerstand der polnisch-litauischen Adligen errichtete Bohdan Chmelnyzkyj 1648 durch einen Vertrag mit dem polnischen König Jan Kazimierz einen eigenständigen ukrainischen Kosakenstaat (Hetmanat) mit Regierungssitz in Tschyhyryn, der aber 1651 durch Bündnisse mit Russland und dem Osmanischen Reich wieder in Abhängigkeiten geriet. Daraufhin wurde die Ukraine zwischen Polen, welches die Rechtsufrige Ukraine erhielt, und Russland, das die linksdneprischen Gebiete bekam, geteilt. Im russischen Teil der Ukraine begann der Aufstieg der Russischen Sprache in der Ukraine, während im polnischen Teil die schon lange anhaltende Polonisierung weitergeführt wurde. Die dreißig Jahre zwischen dem Tod Chmelnyzkyis 1657 und der Wahl Iwan Masepas zum Hetman der Saporoger Kosaken 1687 werden als Ruin (ukr. Руїна) bezeichnet; sie waren geprägt von häufigen Auseinandersetzungen, Bürgerkriegen und Interventionen fremder Mächte.

Während aus dem Vertrag von Hadjatsch abgeleitet werden kann, dass die Kosaken ihren Staat als Nachfolger der Rus' sahen und die ruthenische (altukrainische) Sprache sprachen, wurde der Begriff „Ruthenen“ hauptsächlich auf den Teil der Bevölkerung angewendet, der unter der Kontrolle des polnischen Staates stand.

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